Politik

Kremls Grenzübertritt in Estland"Falls Moskau Europa angreift, dann an mehreren Fronten"

19.12.2025, 18:00 Uhr
00:00 / 06:37
Video poster

Moskau lässt sich wieder was Neues einfallen, um die EU zu provozieren. Dieses Mal dringen russische Grenzschützer unerlaubt in die estnische Stadt Narva ein. Estlands Ex-General Riho Terras nimmt dieses Signal ernst. Narva sei aber nicht der einzige wunde Punkt Europas, sagt er.

ntv.de: Drei russische Grenzschützer haben in der Stadt Narva unerlaubt die Grenze nach Estland überschritten. Sicherheitsexperten warnen seit Jahren vor dem "Narva-Szenario": Russlands Machthaber Wladimir Putin könnte in die Stadt einmarschieren – und damit die Beistandspflicht der Nato testen. Ist der Grenzübertritt der Russen der Vorbote für so einen Überfall?

Riho Terras: Der Kreml hat Aggressionen gegen Nachbarländer oft mit der Behauptung gerechtfertigt, russischsprachige Menschen würden dort angeblich diskriminiert. Diese Darstellung ist größtenteils Propaganda, aber sie ist im Inland nach wie vor wirksam und reicht aus, um die russische Bevölkerung zu überzeugen. Narva ist überwiegend russischsprachig, daher wird es manchmal in hypothetischen Szenarien erwähnt. Ein echter militärischer Angriff allein auf Narva ist jedoch unwahrscheinlich. Falls Russland Europa angreift, dann wird es dies an mehreren Fronten tun. Und ja, Narva ist eines der wahrscheinlichsten Ziele, aber definitiv nicht das einzige.

Terras
Sieben Jahre lang war Riho Terras Befehlshaber der estnischen Verteidigungskräfte. Seit 2020 sitzt er für die konservative Partei Isamaa im Europäischen Parlament. Er ist Vizevorsitzender des EU-Verteidigungsausschusses.

Also handelt es sich um eine weitere Provokation Russlands?

Derzeit sollten wir jedes Signal ernst nehmen. Putin behauptet regelmäßig, Europa würde sich angeblich auf einen Angriff auf Russland vorbereiten, während es in Wirklichkeit nur seine eigene Verteidigung stärkt. Russland testet Grenzen und Reaktionen, das hat es schon immer getan. Es wäre aber keine bloße Provokation mehr, falls Putin tatsächlich versuchen würde, Artikel 5 des Nato-Vertrags zu testen. Er wäre auf einen tatsächlichen Krieg vorbereitet. Nehmen wir an, er beschließt, den Westen zu testen, und die Nato reagiert nicht in der erforderlichen Weise - also nicht stark und entschlossen genug. Dann würde er mit Sicherheit die nächsten Schritte unternehmen und den Test in einen echten Krieg verwandeln.

Sie wurden in einer kleinen Stadt in der Nähe Narvas geboren. Wie wird die Beziehung zu Russland in der Region wahrgenommen?

In Narva wird hauptsächlich Russisch gesprochen. Nach der Invasion Russlands in die Ukraine beschleunigte Estland die Entfernung von Kriegsdenkmälern aus der Sowjetzeit. Die Entfernung des T-34-Panzerdenkmals in Narva im August 2022 war besonders heikel. Die Einheimischen versammelten sich zu öffentlichen Protesten und die Spannungen waren deutlich zu spüren. Politisch gesehen ist die russischsprachige Bevölkerung Estlands nicht einheitlich. Viele unterstützen Estland und die EU nachdrücklich und verurteilen den Krieg, während andere eher mit den Narrativen des Kremls sympathisieren.

Also ist die russischsprachige Bevölkerung an der estnischen Grenze gespalten?

Die Unterschiede können ausgeprägt sein. In Narva und im Landkreis Ida-Virumaa gibt es eine sichtbare Strömung sowjetischer Nostalgie, die die heutige Haltung gegenüber Russland beeinflusst. Bei der jüngsten Parlamentswahl im Jahr 2023 schnitten einige pro-russische unabhängige Kandidaten und eine kleine kremlfreundliche Partei relativ gut ab. Eine ihrer bekanntesten Persönlichkeiten, Aivo Peterson, wurde kürzlich wegen Hochverrats zu 14 Jahren Haft verurteilt.

Gab es seit Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine problematische Vorfälle an der Grenze?

Ja. Im Mai 2024 entfernte der russische Grenzschutz eine beträchtliche Anzahl von Navigationsbojen. Estland hatte sie am Fluss Narva angebracht. Wir bezeichneten dies als Provokation und forderten ihre Rückgabe. Sie erinnern sich sicherlich auch an die Verletzungen des estnischen Luftraums, die auf die Drohnenvorfälle in Polen folgten. Wir müssen die hybride Kriegsführung als Ganzes betrachten und dürfen uns nicht nur auf Narva oder andere europäische Grenzpunkte konzentrieren.

Die sogenannte Freundschaftsbrücke verbindet Narva mit der russischen Stadt Iwangorod. Auf dieser Brücke sind immer noch Ein- und Ausreisen zwischen der EU und Russland möglich. Warum?

Wir müssen eine rechtmäßige, streng kontrollierte Grenzverwaltung für die Anwohner aufrechterhalten, die legitime Gründe für den Grenzübertritt haben - beispielsweise bei Familienzusammenführungen, wichtigen persönlichen Angelegenheiten oder für die Arbeit. Eine vollständige Schließung des Grenzübergangs wäre eine außerordentliche Eskalation mit Konsequenzen, die dem Kreml nicht schaden würden, aber sicherlich normale Menschen in der Grenzregion treffen würden.

Der estnische Außenminister Margus Tsahkna sagte, die beste Antwort auf das Austesten der Grenzen durch Russland sei, die Ukraine weiter zu unterstützen und den Druck auf Russland zu erhöhen. Sehen Sie das auch so?

Ja. Die fortgesetzte Unterstützung der Ukraine und der anhaltende politische und wirtschaftliche Druck auf Russland sind unerlässlich. Gleichzeitig muss die EU auch ihre Glaubwürdigkeit schützen. Wenn Russland die Grenzen testet oder die Einheit auf die Probe stellt, ist das schlimmste Signal Uneinigkeit. Die weitere finanzielle Unterstützung für die Ukraine ist enorm wichtig. Aber was gestern Abend während der Tagung des Europäischen Rates passiert ist, war in meinen Augen ein Fehlschlag.

Warum?

Politische Botschaften und Haltungen sind genauso wichtig wie finanzielle Hilfe. Die politische Botschaft bei der Ukraine-Hilfe lautete jedoch, dass die EU gespalten ist, dass wir uneinig sind, obwohl wir Einheit brauchen. Belgien hat einen Präzedenzfall geschaffen, wonach jeder Mitgliedstaat wichtige Entscheidungen aus persönlichem Interesse blockieren kann. Einheit, insbesondere in Kriegszeiten, erfordert aber gegenseitiges Verständnis und den Verzicht auf persönliche Interessen.

Mit Riho Terras sprach Lea Verstl

Quelle: ntv.de

RusslandEstlandAngriff auf die UkraineHybrider KriegEU-GipfelUkraine-KonfliktWladimir PutinUkraine