Eklat um Wahlkampfauftritte "Für Erdogan geht es um alles oder nichts"
13.03.2017, 19:09 Uhr
Für Recep Tayyip Erdogan könnte das Verfassungsreferendum zur Schicksalsfrage werden.
(Foto: REUTERS)
Im Wahlkampf erweist sich das Redeverbot in den Niederlanden für den türkischen Präsidenten Erdogan als nützlich. Dennoch verteidigt Türkei-Experte Udo Steinbach im Interview mit n-tv.de das Vorgehen Den Haags - und sieht darin eine Blaupause für den Rest Europas.
n-tv.de: Herr Steinbach, zwischen Den Haag und Ankara herrscht Eiszeit. Wie schätzen Sie das Auftrittsverbot für türkische Politiker in den Niederlanden ein?
Udo Steinbach: Ich kann das nachvollziehen. Das Land steht vor einer entscheidenden Wahl. Würden die Niederlande populistisch regiert, würde das Auswirkungen auf ganz Europa haben. Da kann ein Wahlkampfauftritt eines türkischen Politikers nur schaden - nämlich, wenn dieser Wind in die Segel der Opposition bläst. Man kann türkische Politiker durchaus auftreten lassen - das hat man auch in Deutschland hin und wieder getan. Aber wofür wird denn jetzt geworben? Für eine Diktatur. Ich denke, an diesem Punkt kann ein Demokrat eigentlich nicht mehr mitspielen.
Der jüngsten Eskalation folgt nun eine Reisewarnung für Niederländer in der Türkei. Gießt man damit in einer solch angespannten Lage nicht Öl ins Feuer?

Der Islamwissenschaftler Udo Steinbach ist Nah- und Mittelostexperte. Er leitete von 1976 bis 2007 das Deutsche Orient-Institut und lebt heute in Berlin.
(Foto: imago stock&people)
Ich halte die Reisewarnung für angemessen. Angesichts des radikalen Klimas sind niederländische Bürger in der Türkei gefährdet - ob als Touristen oder Geschäftsleute. Wie aufgeheizt die Stimmung ist, konnte man einer türkischen Zeitung [die regierungsnahe "Yeni Akit", Anm. d. Red.] entnehmen, die geschrieben hat: "Wir haben 400.000 Türken in den Niederlanden. Die Niederlande haben 48.000 Polizisten." Da wird im Grunde zum Aufstand aufgerufen. Und das ist eine gefährliche Eskalation. In der Türkei mögen sich viele Menschen durch so etwas dazu motiviert fühlen, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen.
Auch in Deutschland mehren sich Stimmen, die ein Redeverbot für türkische Politiker fordern. Die Bundesregierung reagiert aber zurückhaltend. Werten Sie das als Zeichen der Schwäche?
Ich glaube, dass es erst einmal richtig war, sich noch ein bisschen zurückzuhalten. Aber was jetzt passiert, spottet jeder Beschreibung - und kann diplomatisch überhaupt nicht mehr nachvollzogen werden. Das ist nur noch Polemik, nur noch Aggressivität. Aber die größte Gefahr sehe ich mittel- und langfristig nicht in den deutsch-türkischen Beziehungen, sondern in der tiefen Kluft, die aufgerissen wird zwischen der nicht-türkischen Öffentlichkeit und einem Teil der Türken, die es unwidersprochen hinnehmen, dass Deutschland als Nazi-Land bezeichnet wird. Da befürchte ich für die Integration Schlimmes.
Das deutsch-türkische Verhältnis wurde in jüngster Vergangenheit des Öfteren auf die Probe gestellt, zuletzt durch die Verhaftung von Deniz Yücel. Wieviel Kalkül steckt hinter dem Dauerzoff mit Erdogan?
Das Ganze ist natürlich Kalkül. Die Bundesregierung und jede andere europäische Regierung waren naiv, als sie geglaubt haben, sie könnten - vor allem im Fall Deniz Yücel - irgendetwas erreichen. Der ["Welt"-Korrespondent] ist eingefangen worden, um ein Faustpfand zu haben. Ich bin mir sicher, dass diese Art der Provokation mit dem Ziel, Europa gewissermaßen auf die Anklagebank zu setzen, eine Strategie ist, die geplant war. Und ich fürchte, dass da eine sehr bittere Saat aufgehen wird.
Inwiefern? Viele Türken scheinen Erdogan ja nach wie vor zu folgen …
Was wir sehen, ist, dass er viele Anhänger hat. Was wir wissen, ist, dass bei der letzten Wahl 60 Prozent der Türken, die wählen gegangen sind, Erdogan gewählt haben. Aber das war nur ein Drittel der Türken, die hier in Deutschland leben. Wenn man aber in die türkische Gemeinschaft hineinhört, gibt es auch viele, die verängstigt sind. Sie werden nicht offen sagen, für was sie beim Verfassungsreferendum im April stimmen wollen - auch, weil sie Angst haben um ihre Familien in der Türkei. Und Erdogan ahnt, dass es viele geben wird, die mit "Nein" stimmen werden. Viel mehr, als die Umfragen dokumentieren.
Bis zum Referendum plant Ankara 30 weitere Wahlkampfauftritte türkischer Abgeordneter in Deutschland. Warum sind Erdogan die deutsch-türkischen Wähler so wichtig?
Es geht für Erdogan um alles oder nichts. Wenn das Referendum nicht durchgeht, ist seine politische Laufbahn am Ende. Die Karten in der Türkei werden dann völlig neu gemischt. Dann ist Erdogan "nur" der Präsident auf der Grundlage der gegenwärtigen Verfassung, gegen die er tagtäglich verstößt. Das ist essenziell für ihn. Denn wenn die Türkei zurückkehrt zu einer Demokratie, dann wird auch die Justiz wieder eingesetzt. Schon seit 2013 liegen ja massive Vorwürfe der Korruption auf dem Tisch. Und Erdogan versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass diesen Vorwürfen nachgegangen wird.
Auch früher hat es umstrittene Auftritte von türkischen Politikern in Deutschland gegeben - etwa 2008, als Erdogan die Türken in Köln vor zu viel Anpassung warnte. Der Empörung folgten damals keine Konsequenzen. War das rückblickend ein Fehler?
Nein, ich denke, das war damals angemessen. Tatsache ist, dass die Europäische Union mit der Türkei zu diesem Zeitpunkt noch über eine EU-Mitgliedschaft verhandelte. Und man kann durchaus sagen, dass sich Europa damals zu sehr gesperrt hat, wenn es um die Türkei ging. Man hat mit den Türken verhandelt, aber immer wieder auch gesagt: "Ihr kommt aber gleichwohl nicht in die Europäische Union." Das war ein fundamentaler Fehler. Vieles von dem, was jetzt passiert, kann als eine Art Retourkutsche für die von den Türken so empfundenen Beleidigungen gelesen werden.
Wie sieht also die richtige Reaktion auf die Provokationen Erdogans aus?
Man muss einen Schlussstrich ziehen. Allerdings wäre es besser, wenn man eine europäische Lösung finden könnte. Dafür wird ja auch hier und da schon plädiert. Den Türken würde man damit klarmachen: Bis hierhin und nicht weiter.
Auch ein EU-weites Auftrittsverbot für sämtliche ausländische Wahlkämpfer steht ja im Raum …
Das würde ich aber wieder für zu weitreichend halten. Wir sind hier in einer besonderen Situation. Das ist eine Angelegenheit der Türkei - und der türkischen Politiker, die sich aufführen wie die letzten Rumpelstilzchen. Dem muss man einen Riegel vorschieben.
Mit jeder neuen Provokation von Erdogan wachsen in Europa auch die Sorgen, was passiert, wenn die Türken tatsächlich für das Präsidialsystem stimmen. Wie sieht Ihre Prognose für diesen Fall aus?
Ein Präsidialsystem ist in diesem Fall eine vornehme Umschreibung für eine Diktatur. Und Erdogan wird diktatorischer Herrscher. Das heißt, die Verwerfungen und der Widerspruch aus Europa werden bleiben. Dann kann es auch keine Bewegung mehr geben im türkisch-europäischen Verhältnis mit Blick auf die Verhandlungen um eine EU-Mitgliedschaft. Und nach alldem, was jetzt geschehen ist - den Emotionen, der offenen und verdeckten Gewalt, den weltanschaulichen Verwerfungen in der Türkei - wird das Land einer Zukunft der Instabilität und des Terrorismus entgegengehen.
Mit Udo Steinbach sprach Judith Görs.
Quelle: ntv.de