Protestwelle und Prügelkommandos Globaler Lithiumhunger eskaliert in Argentinien


Eine Straßensperre in der Provinzhauptstadt San Salvador de Jujuy, am Dienstag. Im Hintergrund ist eine Polizistenkette zu sehen.
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Zu einem der größten Lithium-Produzenten der Welt soll Argentinien aufsteigen. Ein Gouverneur im Wahlkampf tritt dabei eine Protestwelle los. Straßenschlachten, Polizisten ohne Kennzeichen und Hausdurchsuchungen wecken dunkle Erinnerungen.
Im Februar ist Gouverneur Gerardo Morales hochbegeistert: "Eine unaufhaltsame Entwicklung" gehe voran, sagt er im äußersten Nordwesten Argentiniens: Die unterzeichnete Investition eines chinesischen Unternehmens in einer steuerfreien Zone, nahe seiner Provinzhauptstadt San Salvador de Jujuy, werde Teil eines "Clusters für die Entwicklung der Lithiumindustrie in der Region". Doch wenige Monate später ist der hohe Norden Argentiniens in Aufruhr.
In der vergangenen Woche eskalierte der brodelnde Konflikt zwischen Wirtschaftsinteressen und Einwohnern. Eine Verfassungsreform der Provinz Jujuy trieb tagelang die Menschen zu Tausenden auf die Straßen. Die Wut von sozialen Bewegungen, indigenen Gemeinden und Gewerkschaften entlud sich auch gegen staatliche Einsatzkräfte, die mit Gummigeschossen, Schlagstöcken und Tränengas vorgingen. Die Demonstranten errichteten Straßenblockaden und antworteten mit Steineregen.
Es geht um zentrale Zukunftsfragen, auch für den Globalen Norden und dessen Wandel zur Elektromobilität: Wer darf rund 1200 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Buenos Aires auf wessen Land die Rohstoffe schürfen? Welche Rechte haben die Menschen, die darauf und bislang davon leben? Welcher Widerstand ist erlaubt?
"Die komplette institutionelle Struktur der Verfassungsänderungen erleichtert die grenzenlose Förderung des Lithiums, ohne Kontrollen, ohne Umweltschutz und ohne Rücksicht auf die indigenen Völker", sagte eine Abgeordnete aus Jujuy. Zugleich frisst die argentinische Inflation von über 100 Prozent die Gehälter auf. Es ist ein sozialpolitischer Giftcocktail, der Wut erzeugt.
Provinzgouverneur Gerardo Morales, nicht für soziale Wärme bekannt, könnte zudem bei der Wahl in wenigen Monaten der kommende Vizepräsident Argentiniens werden - und stachelte die Wut verbal weiter an. Morales beschimpfte die Demonstranten, beschrieb sie wiederholt als Marionetten einer angeblich mafiösen peronistischen Nationalregierung; dort walteten Präsident Alberto Fernández und seine Vize Cristina Kirchner als "Putschisten" wie Donald Trump und Jair Bolsonaro, tönte er.
"Es findet eine Jagd statt"
Die Andenprovinz Jujuy grenzt im Norden an Bolivien und im Westen an Chile, die gemeinsam mit Argentinien zum südamerikanischen Lithiumdreieck gehören. Hier lagert die mit Abstand größte bekannteste Reserve des Rohstoffs weltweit, allein in Argentinien die potenziell zweitgrößte. Lithium wird hier aus Salztonebenen und Salzseen gewonnen, in spärlich besiedelten Landstrichen der Provinzen Jujuy, Salta und Catamarca. Für leistungsfähige Batterien und damit den Wandel zur Elektromobilität ist "das weiße Gold" nach aktuellem Stand unerlässlich. Der Widerstand in Argentinien hat damit auch eine internationale Dimension.
Der Ort Pumamarca, beliebtes Touristenziel in der Kordillere der Anden, ist ein Zentrum der Proteste in Jujuy. Gruppen aus rund 50 indigenen Gemeinden blockierten dort in dieser Woche die Fernstraße. Sie haben Angst, dass ihnen durch die Verfassungsänderung ihr Land, auf dem sie leben, für den Rohstoffabbau weggenommen werden könnte. Am Dienstag wurden in Jujuy 170 Menschen verletzt und 68 festgenommen, es war der bisherige Höhepunkt der Proteste. Teilnehmer berichteten von Polizisten in San Salvador, die Versammlungen infiltrierten und zu Gewalt anstachelten, von Prügelkommandos, von gewaltsamen Hausdurchsuchungen ohne Beschluss. Von einer gibt es eine Videoaufnahme.
Ein schwarz gekleidetes, bewaffnetes Kommando ohne Abzeichen tritt eine Tür ein. Es sind Schreie im Haus zu hören, kurz darauf kommen die Uniformierten wieder heraus, sie springen auf einen weißen Pickup und fahren davon; eine Frau schreit ihnen Flüche hinterher. "Es findet eine Jagd statt", sagte dazu ein führender Aktivist: "Sie haben den Falcon mit dem Hilux ersetzt." Viel schwerer kann ein Vorwurf in Argentinien kaum sein. Die Helfer der letzten Militärdiktatur entführten Regimegegner häufig in den berüchtigten Autos der Marke Ford, Modell Falcon. 30.000 Menschen verschwanden, wurden gefoltert, getötet. Hilux ist das Modell von Toyota, was im Video zu sehen ist.
Die Vereinten Nationen kritisierten am Mittwoch die Gewalttätigkeit der Polizei, wiesen unter anderem auf schwere Kopfverletzungen einiger Demonstranten hin und forderten eine Untersuchung der Vorfälle. Auch die Menschenrechtskommission der OAS sowie Amnesty International kritisierten das Vorgehen scharf. Es müssten die "tiefliegenden Gründe der Proteste" im Dialog adressiert werden, forderten die UN. Einer davon ist: das international so begehrte Lithium.
Hoffnung auf eine bessere Zukunft
In Argentinien gibt es bislang drei industrielle Lithium-Förderstätten, zwei davon in Jujuy. Eine davon - nach der Investition von 1 Milliarde US-Dollar - ist in diesem Monat in Betrieb gegangen und wird dieses Jahr nach China exportieren. Viele weitere Milliarden Dollar ausländischer Investitionen fließen ins Land, 29 Projekte für Lithiumförderung sind mindestens in der fortgeschrittenen Erkundung, sechs davon bereits im Bau und damit auf dem Weg zum Regelbetrieb. Es nährt die argentinische Sehnsucht nach einem Ende gefühlter Dauerkrise, wirtschaftlichem Aufschwung, wenn möglich durch eine inländische Wertschöpfungskette inklusive Batterieproduktion.

So sah es auf der Salzebene Olaroz in Jujuy im Jahr 2010 aus. Heute steht dort, 4000 Meter über dem Meeresspiegel, eine riesige Fabrikanlage zur Gewinnung von Lithium.
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In den kommenden Jahren könnte Argentinien zum zweitgrößten Lithiumproduzenten nach Australien aufsteigen, mit einem jährlichen Exportwert in zweistelliger Milliardenhöhe. Schon im übernächsten Jahr könnten es über 6 Milliarden Dollar sein, ein Plus bei den Gesamtexporten von rund 10 Prozent. Das bedeutet mehr als nur Jobs. Auf viele Exporte erhebt die Regierung Ausfuhrzölle und finanziert damit den Staatshaushalt inklusive Sozialprogrammen, bei einer Armutsrate von derzeit rund 40 Prozent. Auf Lithium zahlen die Firmen derzeit 4,5 Prozent Exportzoll; der sich aber erhöhen könnte, wenn der Industriesektor einmal etablierter ist. Auf Soja etwa werden 30 Prozent erhoben.
Die größten Lithium-Investoren kommen aus Australien, China und den USA, aber auch das sächsische Joint Venture Deutsche E-Metalle hat einen Fuß in der Tür. In Chile und Bolivien, den anderen beiden Ländern des Lithiumdreiecks, sind Entscheidungen darüber Regierungsangelegenheit. In Argentinien stehen die Unternehmen auch deshalb Schlange, weil die Provinzen weitab vom Zentrum nationaler Politik selbst über die Rohstoffnutzung entscheiden. So wie in Jujuy: Die Provinz ist mit 8,5 Prozent an den Lithiumprojekten beteiligt und hat Zugriffsrecht auf 5 Prozent der Produktion.
Explosiver Widerspruch
Insgesamt sind 85 Prozent der Fläche, auf der Indigene leben, als öffentliche Ländereien deklariert. Über die Rechte ihrer Gemeinden bestimmt jedoch die Nationalregierung, nicht die Provinz. Diese wiederum vergibt die Lizenzen auf die Rohstoffe im Boden, und der mit Lithium wird meist von Indigenen als Land ihrer Ahnen gesehen. Etwa 300 Gemeinden wehren sich laut argentinischen Medien dagegen, dass auf ihrem Land geschürft wird. Ein explosiver Widerspruch, den Jujuys Provinzpolitik im Handstreich mit gestrichenen Rechten für Indigene und starker Einschränkung des Rechts auf Demonstrationen aus dem Weg geräumt hätte.
Wegen der gewaltsamen Proteste hat Morales zwei der veränderten Artikel zunächst ausgesetzt und Gespräche angekündigt. Befriedet hat das die Situation kaum, denn in Dutzenden Paragrafen gab es Veränderungen. Der Konflikt könnte das Vermächtnis von Morales' Abschied nach oben werden, mit dem er sich endgültig auf die nationale Bühne katapultiert hat. Im Oktober soll er Vizepräsident von Horacio Larreta werden, derzeit Bürgermeister der Hauptstadt Buenos Aires. Die beiden sollen das oppositionelle bürgerliche Wahlbündnis an die Macht bringen.
Larreta ist der aussichtsreichste Kandidat auf die Nachfolge des unbeliebten peronistischen Präsidenten Alberto Fernández. Der Bürgermeister gehört zu den Konservativen, präsentiert sich aber als Modernisierer mit sozialem Gewissen, während Morales gezeigt hat, wie er die erwarteten Kürzungen staatlicher Unterstützungsprogramme für die Bevölkerung durchsetzen könnte: mit Gummiknüppeln und Tränengas auf der Straße. Als Larreta ihn am Freitag als seinen Vize präsentierte, lobte er, Morales "bleibe standhaft" und in solchen Situationen "gehe ihm nicht der Puls durch".
Schon zuvor hatten bekannte Oppositionspolitiker sowie die Gouverneure der anderen Provinzen mit Lithiumprojekten öffentlich Morales ihre Rückendeckung gegeben, während Präsident Fernández "staatliche Gewalt und Unterdrückung" verurteilte und mit Eingreifen drohte, sollten die Menschenrechte nicht eingehalten werden. Das Justizministerium in Buenos Aires prüft demnach nun die Rechtmäßigkeit der Verfassungsänderungen im fernen Jujuy. Den sozialen Konflikt ums Lithium dürfte dies nur verzögern. Insbesondere, wenn Larreta und Morales in den Präsidentenpalast einziehen sollten. Und ihre Chancen, die stehen gut.
Quelle: ntv.de