
Baerbock und Habeck bei der Vorstellung des Wahlprogramms.
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Grundsatzprogramm beschlossen, Baden-Württemberg gewonnen, Wahlprogramm vorgestellt: Die letzte Zündstufe des Grünen-Raketenflugs in Richtung Kanzleramt ist die Entscheidung, wer Spitzenkandidat sein soll. Die Wahl kann eigentlich nur auf Habecks Co-Vorsitzende Baerbock fallen.
Politikern geht es wie John "Hannibal" Smith, dem Teamleader aus der TV-Actionserie "Das A-Team": Sie lieben es, wenn ein Plan funktioniert. Denn das ist im unsicheren Politikgeschäft nur sehr selten der Fall. Für die Grünen aber läuft tatsächlich alles so, wie es sich das Vorstandsduo aus Annalena Baerbock und Robert Habeck sowie Bundesgeschäftsführer Michael Kellner im Sommer ausgemalt haben: Im Herbst wurde erfolgreich der Prozess zum Grundsatzprogramm abgeschlossen, im März beschert Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit dem besten Landtagswahlergebnis aller Zeiten den Grünen mächtig Rückenwind und fünf Tage später stellte die Partei ihr Bundestagswahlprogramm vor, während die parallel stattfindenden globalen Klimastreiks die Dringlichkeit des Grünen-Wahlprogramms unterstrichen.
Zwischen Ostern und Pfingsten, also spätestens in zehn Wochen, wollen Habeck und Baerbock die Frage nach der Kanzlerkandidatur klären - eine Frage, die auch Journalisten seit Monaten immer wieder stellen, was den Unionsherausforderern zusätzliche Aufmerksamkeit bescherte. Dass sich nun auch noch CDU/CSU in einer unerwarteten Krise befinden, hätte aus Grünen-Sicht nicht besser laufen können. Zu einem möglichen Bündnis mit der Union und einer eher theoretischen grün-rot-roten Koalition gesellt sich seit Tagen die Debatte über eine eventuelle Ampel mit SPD und FDP. Je realistischer eine grüne Regierungsführung erscheint, desto mehr Gewicht kommt der Kanzlerkandidatenfrage zu.
Obama oder Ardern?
Anhand welcher Kriterien wollen Habeck und Baerbock diese wegweisende Entscheidung also ausknobeln? Habeck ist der etwas bekanntere und beliebtere Politiker, der zudem Regierungserfahrung als Minister in Schleswig-Holstein vorzuweisen hat. Der Politikprofessor Lothar Probst nannte den 51-Jährigen im Gespräch mit dem Sender Phoenix die Obama-Option - ein gutaussehendes Gesicht des Aufbruchs, das mit blumigen, philosophischen Exkursen zu Deutschlands Zukunft medial verfange.
Baerbock könnte, um im Bild zu bleiben, die Jacinda Ardern geben, die gleichermaßen toughe wie mitfühlend auftretende Regierungschefin von Neuseeland. Die Bundestagsabgeordnete Baerbock hat in puncto Bekanntheit und Beliebtheit mächtig aufgeholt auf Habeck. Regierungserfahrung hat sie keine, konnte aber wiederholt durch fachlich versierte Auftritte in Parlament und Fernsehen überzeugen. Ihre Mankos im Vergleich zu Habeck sind überschaubar, aber bei der Suche nach dem entscheidenden Unterschied zwischen beiden muss die Tatsache, dass Baerbock Mutter kleiner Kinder ist, unbedingt ins Gewicht fallen.
Es macht einen Unterschied
Ob ein Politiker Mann, Frau oder weder-noch ist, ob diese Person Kinder hat oder nicht, sagt nichts über ihre Eignung zur Regierungsführung aus. Bei gleicher Qualifikation sind Alter, Geschlecht und Herkunft aber sehr wohl Kriterien - zumindest in einem Land, in dem die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Hegemonie weiter Männern zufällt, die aus einem akademischen Elternhaus ohne Migrationshintergrund stammen.
Wenn Habeck bei Anne Will sagt, das höchste, singuläre Regierungsamt der Bundesrepublik sei nicht quotierbar, hat er zwar recht. Dennoch macht es einen Unterschied, was für ein Mensch das Amt bekleidet. Denn wer sich nicht an die ätzenden Frauen- und Ossiwitze zu Beginn der Amtszeit von Angela Merkel erinnern kann, ist wahrscheinlich nur zu jung. Seither hat sich vieles zum Positiven verändert, was leicht vergessen lässt: Weibliche Spitzenpolitiker sind erst seit Beginn der 2000er zur Regel geworden, in der Breite des Politikbetriebs sind sie noch immer eine Minderheit.
Nur die wenigsten erfolgreichen Politikerinnen sind oder waren Mütter junger Kinder. Denn die Vereinbarkeit von Karriere und Familie ist in Deutschlands Politik und Wirtschaft ein unerfülltes Versprechen geblieben. Im Grünen-Wahlprogramm mit dem Motto "Deutschland - Alles ist drin" sind Feminismus und Gleichberechtigung das zweite Schwerpunktthema nach dem Klimawandel. Die Grünen wollen die strukturelle und kulturelle Benachteiligung von Frauen endgültig überwinden. Natürlich ist ein weibliches Gesicht die passendere Spitzenkandidatin zu diesem Programm. Das wäre das eine Signal, das von Baerbock als Kanzlerkandidatin der Grünen ausginge.
Familie als Wahlkampfthema
Ein zweites Signal betrifft die Rolle der Familie als Thema der Politik - ein Kernanliegen Baerbocks in Pandemie-Zeiten. Familie ist überall, wo Menschen aus Liebe und/oder Verwandtschaft Verantwortung füreinander übernehmen, in gleich welcher Konstellation. All diese Menschen sorgen sich um das Wohlergehen ihrer Alten und um die Zukunft ihrer Kinder.
Dass die Grünen für eine Mehrheit der Stimmen nicht allein als Klimapartei wahrgenommen werden dürfen, hat Kretschmann eindrücklich demonstriert. Eine Kandidatin, die anders als alle bisherigen Bundeskanzler sich auch weiter persönlich um kleine Menschen kümmert, ist hierfür die passendere Besetzung als Habeck, dessen vier Söhne schon aus dem Gröbsten raus sind. Zumal Habeck selbst eingeräumt hat, dass es auch seiner progressiven Familie nicht gelungen ist, die Familienarbeit zu gleichen Teilen zwischen Vater und Mutter aufzuteilen.
Eine gesamtdeutsche Kanzlerin
Denn auch das ist ein wichtiger Unterschied: Baerbock ist Mutter junger Kinder, weil sie selbst erst 40 Jahre alt ist - 11 Jahre jünger als Habeck, 14 Jahre jünger als Markus Söder, 20 Jahre jünger als Armin Laschet, 21 Jahre jünger als Olaf Scholz. Die Grüne würde im Kanzleramt auch die in Deutschland erschreckend kleine Minderheit der unter 50-Jährigen repräsentieren. Das ist ebenfalls nicht ohne Bedeutung, denn der Zulauf zu außerparlamentarischen Bewegungen wie Fridays for Future wird auch von dem Gefühl vieler junger Menschen gespeist, in den Institutionen dieses überalterten Landes nicht angemessen vertreten zu sein.
Baerbock ist eine vergleichsweise junge Frau, die die Alltagsnöte von Familien mit kleinen Kindern persönlich nachvollziehen und dieses Verständnis kommunizieren kann. Sie ist außerdem in Niedersachsen aufgewachsen und nach ihrer letzten Studienstation Frankfurt/Oder in ihrer heutigen Heimat Brandenburg im Leben angekommen. Sie wäre die erste gesamtdeutsche Kanzlerin - auch das bedingt durch ihr Alter. Wenn Habeck und Baerbock keine anderen Kriterien als Grundlage ihrer Entscheidung einfallen, führt an der jungen Mutter kein Weg vorbei.
Hinweis: Dieser Artikel wurde erstmals am 15. März veröffentlicht und nun noch einmal aktualisiert.
Quelle: ntv.de