Kiew dem Schicksal überlassen? Habermas für Verhandlungen - sieht aber keinen Willen bei Putin
15.02.2023, 08:25 Uhr Artikel anhören
Vor fast einem Jahr überfiel Russland die Ukraine. Seitdem wurden Zehntausende Zivilisten und Soldaten getötet, zig Ortschaften in der Ukraine dem Erdboden gleichgemacht.
(Foto: AP)
Der Philosoph Jürgen Habermas ist besorgt. Die Waffenlieferungen an die Ukraine hätten eine Eigendynamik entwickelt, "die uns mehr oder weniger unbemerkt über die Schwelle zu einem dritten Weltkrieg hinaustreiben könnte". Deshalb ruft er zu Gesprächen auf - räumt aber ein Problem ein.
Der Philosoph Jürgen Habermas hat sich mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine für Verhandlungen ausgesprochen. Zwar leiste der Westen aus guten Gründen militärische Hilfe an die Ukraine, schrieb der 93-Jährige in einem Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung". Daraus erwachse aber auch Verantwortung. "Aus der Perspektive eines Sieges um jeden Preis hat die Qualitätssteigerung unserer Waffenlieferungen eine Eigendynamik entwickelt, die uns mehr oder weniger unbemerkt über die Schwelle zu einem dritten Weltkrieg hinaustreiben könnte."
Habermas beklagt dabei die öffentliche Debatte und eine "Beschleunigung des bekannten Spiels der moralisch entrüsteten Rufe nach schlagkräftigeren Waffen". Zugleich kritisiert er den "bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung, in der das Zögern und die Reflexion der Hälfte der deutschen Bevölkerung nicht zu Worte kommen".
Inzwischen macht Habermas allerdings auch kritische Stimmen aus, die auf ein Nachdenken über den schwierigen Weg zu Verhandlungen drängten. "Wenn ich mich diesen Stimmen anschließe, dann gerade weil der Satz richtig ist: Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren", schrieb Habermas. Ihm gehe es um den vorbeugenden Charakter rechtzeitiger Verhandlungen. Diese verhinderten, dass ein langer Krieg noch mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert - "und uns am Ende vor eine ausweglose Wahl stellt: entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen."
Kein Einlenken Putins in Sicht
Trotz seines Plädoyers für Verhandlungen räumt auch Habermas ein: "Es gibt einstweilen kein Anzeichen dafür, dass sich Putin auf Verhandlungen einlassen würde." So habe dieser Entscheidungen getroffen, die die Aufnahme von aussichtsreichen Verhandlungen fast unmöglich machten. Mit der Annexion der östlichen Provinzen der Ukraine habe er "Fakten geschaffen und Ansprüche zementiert, die für die Ukraine nicht akzeptabel sind".
Tatsächlich machte Putin mehrfach eine Anerkennung der russischen Eroberungen zur Bedingung von Verhandlungen mit Kiew. Im Januar etwa teilte der Kreml mit, dass Putin bereit zum Dialog sei -"unter der Bedingung, dass die Obrigkeit in Kiew die bekannten und mehrfach öffentlich gemachten Forderungen erfüllt und unter Berücksichtigung der neuen territorialen Realität". Putin hatte im Herbst die ukrainischen Regionen Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja offiziell annektiert. Zu den Moskauer Bedingungen für ein Ende des Angriffskriegs gegen die Ukraine gehören zudem Kiews Anerkennung der annektierten Krim als russisch, eine "Entnazifizierung" und "Entmilitarisierung" der Ukraine sowie deren blockfreier Status. Die Ukraine wiederum nennt den Abzug russischer Truppen aus ihrem Gebiet als Vorbedingung für Verhandlungen.
Habermas bescheinigt der Ukraine, "wohl immer noch eine Nation im Werden zu sein". Auf die Folgen der russischen Besatzung für die Ukrainer geht er nicht näher ein. Als Kernproblem der Debatte sieht er vielmehr, dass die Ziele der Ukraine und ihrer Unterstützer unklar seien. "Ist es das Ziel unserer Waffenlieferungen, dass die Ukraine den Krieg 'nicht verlieren' darf, oder zielen diese nicht vielmehr auf einen 'Sieg' über Russland?"
Die russischen Ziele hat Moskau indes immer wieder verdeutlicht: Laut Putin ist die Ukraine ein historischer Fehler, der Krieg soll diesen Fehler korrigieren. Nahezu täglich fordern Kreml-Politiker und Propagandisten im russischen Fernsehen eine Auslöschung der Ukraine.
Quelle: ntv.de, ghö/dpa