Interview mit Oona Hathaway "Putins Handeln ist nicht nur falsch, sondern kriminell"
05.02.2023, 18:37 Uhr
Putin vor einem internationalen Tribunal anzuklagen, wäre "eine wirklich starke Botschaft an andere Staatschefs", sagt Oona A. Hathaway.
(Foto: via REUTERS)
Die Einrichtung eines Sondertribunals in Den Haag, das sich mit dem Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine befasst, ist notwendig, sagt die Völkerrechtlerin Oona A. Hathaway von der Yale Law School im Interview mit ntv.de. Dies wäre nicht nur eine Botschaft an Putin, sondern auch eine Warnung an andere Staaten, keine illegalen Angriffskriege zu führen.
ntv.de: Benjamin Ferencz, der letzte noch lebende Chefankläger der Nürnberger Prozesse, nannte Russlands Krieg in der Ukraine "den ungeheuerlichsten Fall eines Verbrechens der Aggression seit Jahrzehnten". Wie hat sich unsere Vorstellung von einem Aggressionskrieg seit den Nürnberger Prozessen verändert?
Oona A. Hathaway: Die Nürnberger Prozesse waren das erste Mal in der Geschichte, dass Verbrechen gegen den Frieden vor Gericht verhandelt wurden. Es ging um die Führung eines illegalen Krieges. 1928 hatten 15 Staaten in Paris den Briand-Kellogg-Pakt unterzeichnet. Damit wurde der Grundstein für die Ächtung des Krieges gelegt. Dies ermöglichte es später, die Deutschen und - in einem separaten Verfahren - die Japaner für die Führung eines illegalen Krieges zur Rechenschaft zu ziehen.

Oona A. Hathaway ist Professorin für internationales Recht an der Universität Yale. Sie gehört einem Beratungsgremium des US-Außenministeriums an und war 2014/15 Sonderberaterin des Pentagon.
(Foto: Yale Law School)
Die Grundlage für die Definition eines Verbrechens gegen den Frieden oder eher eines Verbrechens der Aggression hat sich seither geändert. Heute stützen wir uns auf die Charta der Vereinten Nationen, die 1945 geschaffen wurde. Sie verbietet es den Staaten, Gewalt gegeneinander anzuwenden, es sei denn, sie handeln zur Selbstverteidigung oder wurden vom UN-Sicherheitsrat zur Gewaltanwendung ermächtigt. Ein Verbrechen der Aggression ist also ein illegaler Krieg, der gegen die UN-Charta verstößt.
Außenministerin Annalena Baerbock hat sich bei ihrem Besuch in Den Haag für ein Sondertribunal eingesetzt. Allerdings untersucht der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) bereits mögliche Kriegsverbrechen in der Ukraine. Warum ein neues Format?
Der Internationale Strafgerichtshof ist nicht zuständig, wenn es um das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine geht. Weder Russland noch Belarus haben das Römische Statut - so heißt die vertragliche Grundlage des IStGH - ratifiziert. Die Ermittlungen des IStGH gegen Russland beziehen sich auf die Verfolgung von Personen wegen Völkermordes, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn wir also Russland für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine insgesamt zur Rechenschaft ziehen wollen, muss es ein Sondertribunal geben.
Sehen Sie auf internationaler Ebene genügend politischen Willen, ein solches Tribunal einzurichten?
Die größten Herausforderungen sind politischer, nicht juristischer Natur. Im Idealfall müsste es eine Abstimmung in der UN-Vollversammlung geben. Sie sollte UN-Generalsekretär António Guterres empfehlen, eine Vereinbarung mit der Ukraine zur Einrichtung eines solchen Sondertribunals zu treffen. Dafür wäre die Zustimmung einer Mehrheit der Staaten in der Vollversammlung nötig. Bisher hat sie zweimal mit überwältigender Mehrheit die illegale Aggression Russlands verurteilt, 141 bei der ersten und 143 bei der zweiten Abstimmung, wobei es in beiden Fällen nur fünf Gegenstimmen gab. Doch nun soll ein weiterer Schritt folgen. Hier geht es wirklich darum, den politischen Willen zum Handeln zu entwickeln.
Bislang gab es keine Anzeichen dafür, dass die US-Regierung sich dafür intensiv einsetzen wird.
Ich glaube, es besteht die Einsicht, dass die USA in dieser Frage nicht federführend sein können. Das liegt zum Teil daran, dass sie das Römische Statut selbst nicht ratifiziert haben. Außerdem gab es einen Streit zwischen der Trump-Regierung und dem Internationalen Strafgerichtshof. Ich glaube, es gibt Bedenken, dass es heuchlerisch erscheinen könnte, wenn die USA jetzt eine Führungsrolle bei der Einrichtung eines solchen Sondertribunals einnehmen. Dennoch haben sie sich dieser Initiative nicht widersetzt. Und das ist in der Tat ein sehr wichtiger Schritt. Auch Beth Van Schaack, die US-Sonderbeauftragte für globale Strafjustiz, signalisierte kürzlich auf der Versammlung der Vertragsstaaten in Den Haag die Bereitschaft der USA zur Zusammenarbeit mit dem IStGH.
Großbritannien hat ein "hybrides" Tribunal vorgeschlagen, das in das nationale Justizsystem der Ukraine integriert wäre und durch internationale Elemente verstärkt werden könnte.
Das Problem bei einem "hybriden" Tribunal wäre, dass, wenn es innerhalb des ukrainischen Gerichtssystems eingerichtet würde, die persönliche Immunität für den Staatschef, den Regierungschef und den Außenminister des angreifenden Landes weiterhin gelten würde.
Das bedeutet, dass Putin, Lawrow und Lukaschenko nicht vor Gericht gestellt werden könnten?
Ja, es wäre nicht möglich, die höchste Führungsebene vor Gericht zu ziehen. Einige europäische Staaten scheinen diesen "hybriden" Ansatz zu bevorzugen. Aber ich fürchte, die Gefahr dabei ist, dass Putin dann aus dem Spiel wäre. Und das wäre ein wirklich schreckliches Signal. Wir würden diejenigen vor Gericht stellen, die auf den unteren Ebenen der Entscheidungsfindung sitzen, aber nicht diejenigen, die am meisten für den Krieg verantwortlich sind. Das wäre wirklich tragisch.
Eine persönliche Immunität gäbe es in einem internationalen Format nicht?
Wenn es sich um ein internationales Tribunal handeln würde, das durch ein Abkommen zwischen den Vereinten Nationen und der Ukraine auf der Grundlage einer Empfehlung der UN-Vollversammlung eingerichtet würde, würde die persönliche Immunität nicht gelten. Putin, Lawrow und Lukaschenko wären nicht geschützt.
Sie würden aber in Russland und Belarus sicher außer Reichweite bleiben.
Werden wir diese Leute jemals auf der Anklagebank sehen? Wie groß sind die Chancen, dass sie tatsächlich vor Gericht gestellt werden? Realistisch betrachtet sind diese Chancen nicht groß. Aber sie sind auch nicht gleich Null. Um jemanden wie Putin oder Lawrow vor Gericht zu bringen, wäre wahrscheinlich ein Regimewechsel in Russland erforderlich. Das scheint im Moment nicht sehr wahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich.
Aber selbst wenn sie nie ausgeliefert werden, würden eine Anklage, ein Haftbefehl und die Tatsache, dass ihr Vermögen eingefroren werden kann, eine wirklich wichtige Botschaft an die Welt senden. Nicht nur an Russland, nicht nur an Putin und Lawrow. Sondern an alle anderen. Die Botschaft, dass ihr Handeln nicht nur falsch, sondern kriminell ist, dass sie strafrechtlich verfolgt werden und dass sie für die Führung eines illegalen Angriffskrieges zur Rechenschaft gezogen werden. Und selbst wenn wir sie nicht physisch auf die Anklagebank bringen können, werden sie nie wieder eine wichtige Rolle in der internationalen Politik spielen oder frei reisen können. Das wäre eine wirklich starke Botschaft an andere Staatschefs - eine Botschaft, dass ein solches Verhalten inakzeptabel ist und dass jeder zur Rechenschaft gezogen wird, wenn er oder sie beschließt, Russlands Beispiel zu folgen und einen illegalen Angriffskrieg zu führen.
Wie aufwändig wäre ein solches Verfahren?
Die Idee wäre, ein relativ kompaktes Gericht zu schaffen. Es hätte einen einzigen Zweck: die Verfolgung des von Russland und Belarus in der Ukraine begangenen Verbrechens der Aggression. Beweise für dieses Verbrechen sind nicht annähernd so schwer zu sammeln wie bei Kriegsverbrechen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Zahl der Angeklagten, die sich vor diesem Gericht verantworten müssen, wäre relativ begrenzt, da es sich um ein Verbrechen auf Führungsebene handelt.
Welche konkreten Schritte erwarten Sie in den kommenden Monaten?
Es gibt bereits einschlägige Präzedenzfälle bei der UNO. Einer davon sind Außerordentliche Kammern an den Gerichten von Kambodscha. Der andere ist der Sondergerichtshof für Sierra Leone. Im ersten Fall stimmte die UN-Vollversammlung dafür, die Einrichtung dieses Gerichts zu empfehlen. Der UN-Generalsekretär arbeitete dann mit Kambodscha zusammen, um es einzurichten. Im zweiten Fall empfahl der UN-Sicherheitsrat die Einrichtung eines solchen Gerichts, machte aber nicht von seinen Kompetenzen nach Kapitel VII der UN-Charta Gebrauch.
Entscheidend ist, dass die Behörden in Kiew ihr Einverständnis mit dem Tribunal geben müssen. Es müsste eine entsprechende Vereinbarung zwischen der Ukraine und den Vereinten Nationen geben.
Würden Verhandlungen als Mittel zur Beendigung dieses Krieges nicht völlig ausscheiden, wenn ein solches Tribunal zu früh eingerichtet würde?
Die Kritik, dass die internationale Strafgerichtsbarkeit das Ende eines Konflikts verzögern kann, ist hinlänglich bekannt. In diesem Fall ist sie jedoch weit weniger berechtigt als in anderen. Der Internationale Strafgerichtshof ermittelt bereits gegen russische Vertreter wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Sie werden auf die eine oder andere Weise zur Rechenschaft gezogen werden. Was wir jetzt brauchen, ist ein Gericht, das in der Lage ist, die "Mutter" all dieser Verbrechen zu verfolgen, nämlich das Verbrechen der Aggression. Denn ohne dieses Verbrechen wären die anderen Verbrechen nicht möglich gewesen.
Sie schlagen nicht nur ein Sondertribunal, sondern auch mögliche Änderungen des Römischen Statuts vor.
Ja, solche Änderungen würden dem IStGH die Zuständigkeit für das Verbrechen der Aggression verleihen, wenn es von Staatsangehörigen von Staaten begangen wird, die nicht Vertragsparteien des Statuts sind. Doch jede Änderung des Statuts könnte Jahre dauern.
Die internationale Gemeinschaft konzentriert sich auf die mutmaßlichen Verbrechen der russischen Streitkräfte. Es gibt aber auch Vorwürfe gegen die ukrainische Seite, insbesondere im Hinblick auf die Behandlung von Kriegsgefangenen. Was könnte bei der Untersuchung solcher Fälle verbessert werden?
Das ist ein Teil dessen, was der Internationale Strafgerichtshof untersuchen sollte. Und wahrscheinlich tut er das auch. Ich erwarte, dass der Gerichtshof allen plausiblen Anschuldigungen gegen beide Seiten nachgeht.
Mit Oona A. Hathaway sprach Ekaterina Venkina
Quelle: ntv.de