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Wieduwilts WocheHuch, mein Deutschlandvertrauen ist weg!?

26.11.2021, 11:17 Uhr 20221217-Hendrik-Wieduwilt-075-highres-finalHendrik Wieduwilt
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Was waren das für schöne Zeiten, als man sich über Sauberkeit, Ordnung, die geilsten Autos und die besten Krankenhäuser in Deutschland freuen konnte! (Foto: picture alliance / Christian Charisius/dpa)

Früher war alles besser: Wir waren das Land der Ordnung, der Technik und der guten Laune! Na gut, Letzteres noch nie, aber die Verwaltung funktionierte, wir bauten die besten Autos. Doch wir sind nicht mehr spitze. Wir sind Loser.

Manche Rekorde erklimmt Deutschland noch heute, leider traurige: 100.000 Corona-Tote und die höchste Zahl der Neuinfektionen seit Beginn der Pandemie: 76.414 Fälle an einem Tag. Die Intensivstationen sind fast voll. Bis zum Frühling bitte Herzinfarkt und so aufschieben!

Wir haben versagt. Warum?

Angela Merkels sonst eher schweigsamer Mann Joachim Sauer erklärte das in der vergangenen Woche erfrischend unverblümt: Die Impfträgheit der Deutschen liege teils "an einer gewissen Faulheit und Bequemlichkeit der Deutschen". Der Herr Professor muss es wissen, seine Frau verdankt diesen Volkseigenschaften schließlich 16 Jahre Kanzlerschaft.

Mit Rudolf Steiner in den schwarzen Sack

Impfverweigern scheint tatsächlich ein besonders deutschsprachiger Sport zu sein. Dafür gibt es natürlich intelligentere Erklärungen als Faulheit und Bequemlichkeit. Vor allem gibt es viele Erklärungen: In Baden-Württemberg etwa ballen sich besonders viele Anthroposophen rund um den Hellseher Rudolf Steiner. Jede Krankheit hat in diesem krummen und erzdummen Gedankengebäude ihren Zweck. Für Anthroposophen scheint es gut und richtig zu sein, wenn man durch Spritzenverweigerung ein paar zusätzliche Mitmenschen an die künstliche Lunge oder gleich in einen schwarzen Sack zwingt.

Ein anderer Faktor ist die Stasi-Erfahrung im Osten, ein gewachsenes Staatsmisstrauen, manche sehen in Impfärzten tatsächlich Handlanger moderner Nazis. Ein Grund findet sich immer, übrigens auch im Deutschland vor über hundert Jahren: Im Kaiserreich war es eine Trotzreaktion gegen die plötzlich autoritär auftretende Wissenschaft, auch damals taten sich die Verschwörungstheoretiker zusammen. Es gab keinen Telegram-Kanal eines antisemitischen Veganers, sondern eine Zeitschrift namens "Der Impfgegner", das Prinzip war dasselbe: eine große Lügen-Selbstbefruchtung. Tenor: Von den schnöseligen Weißkitteln lässt man sich gar nichts sagen! Dieser Sound ist wohlbekannt aus Facebook-Kommentarbereichen.

Irrationalismus, Antimodernität und ein Hang zu Mystik haben in Deutschland eine ruhmlose Tradition. Es sind Eigenschaften, die uns direkt in die Finsternis des Dritten Reichs führten. Beim Lesen mancher Leserbriefe aus der Impfgegnerszene fühlt sich Deutschland auch heute an wie eine verschrobene Druidennation, die die Früchte der Aufklärung zwanghaft zu brauner Brühe verkochen muss. Geringes Körperfett, ein gutes Immunsystem, alles hilft besser als ein Impfstoff, jedenfalls gefühlt.

Mit der Impfung gegen Gott

Betrachtet man den ganzen Globus, ist die Sache komplizierter als nur deutsch, wie die FAZ ausleuchtete: Aberglaube und Glaube können nah beieinanderliegen und so erklärten sich niedrige Impfquoten etwa unter Orthodoxen. "Mit der Impfung pfuscht man Gott ins Handwerk", fasst der Historiker Heinrich August Winkler das Denken zusammen - auch hier also ein bisschen wie bei Esoterikern: Den Tubus im Hals, das wird der Mensch schon irgendwie verdient haben.

Wie auch immer, die Mehrheit der Deutschen ist ganz schön enttäuscht von ihren Landsleuten, aber andererseits: Wer jemals in einem Fitnessstudio oder einer U-Bahn war, kann in Sachen Rücksicht, Bedacht und Umsicht keine großen Erwartungen gehegt haben. Der Mensch kann sich die Gesellschaft nicht aussuchen, in die er hineingeworfen wird.

Doch die Erschütterung des Deutschland-Vertrauens reicht über die Mitmenschen hinaus ins Wirtschaftliche. Was waren das für schöne Zeiten, als man früher aus dem Urlaub in irgendeinem Schmuddelland zurückkam und sich über Sauberkeit, Ordnung, die geilsten Autos und die besten Krankenhäuser in Deutschland freute!

Deutschland ist digitales Entwicklungsland

Die Ernüchterung kam schleichend. Da war der Moment, als ich vor etwa 13 Jahren in Kuala Lumpur feststellte, dass alle Menschen in der Monorail auf Geräte starrten, nicht auf Papier. Zu Hause rümpfte ein konservativer und auch ein bisschen antimoderner Mitmensch wegen dieses Reiseberichts die Nase. Typisch ungebildete Asiaten, so in etwa klang er.

Heute hat sich die Lage ein bisschen weiterentwickelt, in die falsche Richtung: Deutschland ist ein digitales Entwicklungsland. Es geht eben alles schneller als man denkt, das gilt nicht nur für Pandemien. Die geilsten Autos baut man zwar künftig auch in Brandenburg, aber die Marke ist amerikanisch. Amerikanische Konzerne bieten zudem rundum alles, was das digitale Leben ausmacht, chinesische auch - gut, mit diktatorischen Nebenwirkungen. In Deutschland und in der EU schnitzt man dafür die größten, weltschönsten und filigransten Paragrafenwerke!

Wenn denn die Ordnung wenigstens noch Markenkern der Deutschen wäre! Wir Deutschen lieben es, Regeln aufzustellen. Weil das weniger Arbeit macht als echte Arbeit. Im Einhalten sind wir nicht so gut. Wir sind Vize-Weltmeister im Steuerhinterziehen. Joachim Sauers zurückhaltende Ehefrau sagte in einem Interview kürzlich dies: "16 Ethikräte und 16 Datenschutzbeauftragte können bei länderübergreifenden Forschungsprojekten schon eine Hürde sein, die zumindest die Genehmigung von Forschungsvorhaben sehr langwierig macht."

Krematorium macht Wartungspause

In der Pandemie zeigt sich: In Deutschland ist jedes Topfschlagen straffer organisiert als die Pandemie. Mein Impfzertifikat wurde bis zum heutigen Tag kein einziges Mal richtig geprüft und in der Regel überhaupt nicht. Ein über den Tresen gerufenes "Geimpft, ne?" ist eben keine Prüfung. Die Folge: In diesen Tagen will man überall sein, nur nicht in einer deutschen Notaufnahme. Krematorien machen Überstunden, das ist deutsche Problemlösung - es sei denn, es darf gerade keiner sterben, weil im Krematorium die Software gewartet werden muss. Wie wartet man diese Software, im Blaumann und mit Schraubenschlüssel?

Wer im Ausland herumfliegt, macht deutlich andere Erfahrungen: Es wird kontrolliert, die Menschen tragen Masken, auch über der Nase, als hätten wir eine Pandemie oder so. Vor allem dort, wo man die Armee für Leichentransporte rufen musste. Bergamo war insofern die ultimative geistige Impfung zur Vernunft - eine mit nationalem Trauma als Nebenwirkung.

Es drängt sich nun, mit dem nahenden Regierungswechsel, die Frage auf: Kann die Ampel das beschädigte Deutschlandvertrauen reparieren? Sie hat sich "Mehr Fortschritt wagen" auf den Vertrag geschrieben, immerhin. Das ist mehr als ein kühnes Willy-Brandt-Zitat. Es ist der Bezug auf den sozialliberalen Aufbruch aus den "bleiernen Adenauerjahren".

Mit Willy Brandt zur Identität

Es war damals sicher eine noch deutlich andere Art des Bleiernseins - und dennoch: Die Schwere und Behäbigkeit der Großen Koalition auf ihren letzten Metern raubt vielen Bürgern die ohnehin schon flattrigen Nerven. Gesundheitsminister Jens Spahn etwa munterte die Deutschen auf dem Weg zum Ausgang auf, als wäre er der Terminator: Jeder Deutsche sei bald "geimpft, genesen oder gestorben". Taschentücher gibt’s auf dem WC, ihr Heulsusen! Auch Spahn ist - war? - gegen eine Impfpflicht.

Die Ampel hat mit dem Brandt-Zitat ihr dringendstes Puzzleteil gefunden: eine identitätsstiftende Geschichte. Das ist mehr als Marketing, eine solche Erzählung kann Rot und Grün und Gelb zusammenhalten, auch wenn es inhaltlich knallt - und das wird es. Die Ampel will nun einen Corona-Krisenstab einrichten, endlich. Sogar Fachleute loben, dass der Koalitionsvertrag prall gefüllt ist mit Zeilen zum Thema Digitalisierung und zum deutschen Verhältnis zu Daten. Auch gesellschaftlich wagt man den Schritt aus der konservativen Umklammerung: Das Werbeverbot für den Schwangerschaftsabbruch soll fallen und eine doppelte Staatsbürgerschaft möglich werden.

Leise Zweifel keimen in der deutschen Loser-Seele: Im Moment will das Regierungsbündnis sich satte zehn Tage Zeit lassen für das Prüfen weiterer Pandemiemaßnahmen. Es ist nicht bekannt, ob die neue Virus-Variante so viel Geduld hat, die gerade in Südafrika keck aus der Kontinentspitze hervorlugt.

Keine 100 Tage Schonfrist

Zehn Tage sind eine Ewigkeit in einer heißgelaufenen Pandemie. Und beim Koalitionsvertrag hat die Ampel auch nicht durch digitalen Alphabetismus geglänzt: In den Dokumentsdaten, die man üblicherweise sauber löscht, fand sich der Name des DGB-Vorsitzenden. Und die Grünen zerfetzten sich in einem Machtkampf, als wären sie die CDU.

Auf 100 Tage Schonfrist kann dieses Bündnis nicht hoffen. Den Fortschritt muss es schneller wagen.

Quelle: ntv.de

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