Rückkehr des Rechtsstaats In Polen warten juristische Herkulesaufgaben
09.12.2023, 12:32 Uhr Artikel anhören
Voraussichtlich an diesem Montag enden die Möglichkeiten der PiS, den Machtwechsel zu verzögern. Dann ist der Weg für Donald Tusk frei, Ministerpräsident zu werden.
(Foto: IMAGO/Forum)
Die rechtskonservative PiS hat ihren Abgang von der Macht lange hinausgezögert. In der kommenden Woche ist es dennoch so weit: Polen bekommt eine neue Regierung. Für die gibt es so viel zu tun, dass eine Umsetzung tiefgreifender Reformen nicht absehbar ist.
Die Polen haben bei den Parlamentswahlen im Oktober die PiS-Regierung und die illiberale Politik von Parteichef Jarosław Kaczyński abgewählt. Die künftige proeuropäisch-demokratische Regierungskoalition aus Bürgerkoalition, Drittem Weg und Linke verfügt über eine deutliche Mehrheit im Sejm, dem polnischen Parlament. Und der designierte Ministerpräsident Donald Tusk verspricht nichts weniger als die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Polen. Doch welche Korrekturen können vorgenommen werden, die wirksam sind, aber nicht selbst gegen das Gesetz verstoßen?
Eines der vordringlichsten Projekte zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Polen bildet die Reform des Landesjustizrates (Krajowa Rada Sądownictwa, KRS). Gemäß der polnischen Verfassung schlägt dieses Gremium dem Staatspräsidenten Kandidaten zur Ernennung auf Richterposten vor. Während der beiden letzten Legislaturperioden seit 2015 allerdings wurde der KRS sukzessive mit Richtern besetzt, die der PiS nahestehen.
Ebenso wurde eine effektive gerichtliche Kontrolle der Entscheidungen des Landesjustizrats systematisch abgeschafft: Zunächst ab 2018, indem Entscheidungen für einen Kandidaten nach dem Gesetz bestandskräftig wurden, wenn nicht alle sonstigen Teilnehmer am Ernennungsverfahren die Entschließung des KRS anfochten. Dann ab 2019, als Rechtsbehelfe gegen Kandidatenentscheidungen des KRS gar gänzlich abgeschafft und bereits anhängige Beschwerden für erledigt erklärt wurden. Der Landesjustizrat hat durch diese Reformen seine politische Unabhängigkeit verloren. Das bestätigen auch Urteile des EuGH und des polnischen Obersten Verwaltungsgerichts.
Der Justizrat soll entpolitisiert werden
Um die Verfassungskonformität des KRS wiederherzustellen, wird aktuell als erster Schritt die Verabschiedung einer Resolution durch den Sejm diskutiert. Darin würde das Parlament feststellen, dass Richter zu Unrecht in den Rat gewählt wurden, ohne dass sie jedoch ihren Sitz im KRS verlieren. Diese Entschließung des Parlaments wäre - nicht zuletzt für Brüssel und die EU - ein starkes, unmissverständliches Signal für die rechtsstaatliche Erneuerung Polens.
Zugleich könnte der Sejm auf dieser Grundlage einen Gesetzesentwurf verabschieden, demzufolge die gesamte richterliche Besetzung des KRS abgeschafft und eine neue Art der Kandidatenwahl festlegt würde. Ein Teil von Rechtsexperten hingegen vertritt einen weitergehenden Standpunkt, dass Richter des Landesjustizrates auch unmittelbar durch die Resolution des Sejm entlassen werden sollen. Ob letztere Einschätzung zutrifft und möglich ist, bedarf der Klärung. Ziel der neuen Regierung in jedem Fall wird es sein, die Aktivitäten des KRS zunächst "einzufrieren", dass er in seiner jetzigen, rechtswidrigen Verfasstheit keine juristischen Auswahlverfahren mehr organisiert beziehungsweise keine Richterkandidaten mehr vorschlägt. Längerfristig soll der Rat entpolitisiert und neu besetzt werden - mit unabhängigen Vertretern der Justiz.
Zukünftiger Status der "Neo"-Richter
Eng mit der verfassungsgemäßen Neugestaltung des KRS verknüpft ist die Frage, wie mit sogenannten "Neo"-Richtern verfahren wird. Dies sind die etwa 2000 Richter, die während der illiberalen, autokratischen PiS-Regierung rechtsmangelbehaftet, ohne die angemessene Garantie eines Schutzes der richterlichen Unabhängigkeit und der Unabhängigkeit der Richter ernannt worden sind. Aktuell wird nach einer Lösung gesucht, die allen Teilnehmern am Rechtsverkehr ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Zur Vermeidung einer ausufernden Lähmung der Gerichte wird von einem Teil der Experten vorgeschlagen, alle "Neo"-Richter grundsätzlich in ihre ursprüngliche Instanz vor der Ernennung zurückkehren zu lassen. Sie könnten sich in der Folge neuen Auswahlverfahren vor einem ordnungsgemäß konstituierten Obersten Gerichtshof (Sąd Najwższy, SN) stellen.
Von einem solchen Verfahren ausgenommen werden sollen lediglich Richter, die unmittelbar im Anschluss an ihre Ausbildung zu Richtern ernannt wurden. Gegenüber diesem Vorschlag wird ein alternatives Verfahren diskutiert: eine individuelle Überprüfung der Ernennung zum "Neo"-Richter durch einen rechtmäßig konstituierten Landesjustizrat. Der KRS könne dann im Zweifel Einzelfälle an den SN verweisen, welcher erst in einem zweiten Schritt Richter entweder ihres Amtes entheben oder auf einen früheren Posten versetzen würde.
Umgang mit dem Verfassungsgericht
Das von der PiS politisierte Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny, TK) wird eine Herausforderung bleiben. Einigkeit besteht unter Experten, dass mittels Sejm-Resolution die Ungültigkeit der Wahl der drei sogenannten "Richter-Double" festgestellt werden kann. Dabei handelt es sich um Richter, die 2015 von PiS besetzt wurden, um ordnungsgemäß gewählte Richter zu ersetzen. Ihre Anwesenheit im Gericht ist rechtswidrig; unter anderem ist dies Gegenstand eines vor dem EuGH anhängigen Vertragsverletzungsverfahrens. An die Stelle der "Richter-Double" sollten die seinerzeit gewählten Richter treten. Es steht jedoch zu erwarten, dass die Zusammensetzung der TK- Generalversammlung bis auf Weiteres unkorrigiert bleibt, da eine Entschließung des Sejm rechtlich nicht die Absetzung der von PiS besetzten Richter bewirkt. Entsprechend bezeichnet TK-Präsidentin Julia Przyłębska, die als konservative und der PiS nahestehende Richterin gilt, die Idee einer Sejm-Resolution als "peinlich", als "völliges Missverständnis" und zeigt sich weiter uneinsichtig, es gebe am Gericht absolut keine illegal berufenen Richter.
Umstritten ist aufgrund der "Richter-Double" die Gültigkeit von mehr als 80 Urteilen, die seit 2015 unter Beteiligung dieser Richter erlassen wurden, darunter ein Urteil, das das Abtreibungsrecht im Sinne der Politik der PiS noch verschärfte, aber auch Entscheidungen, die keine inhaltlichen Zweifel aufwerfen. Teilweise wird die Ansicht vertreten, dass diese Urteile ungültig sind, aber auf ihrer Grundlage erlassene Einzelurteile gegen Bürger oder Unternehmen in Kraft bleiben. Eine andere Auffassung beharrt darauf, dass kein Staatsorgan sich Urteilen des TK entziehen kann.
So scheinen an dieser Stelle der künftigen Regierung vorerst die Hände gebunden. Auch hat die Frage der "Richter-Double" derzeit keinen entscheidenden Einfluss auf die Tatsache, dass die TK-Generalversammlung, die als Spruchkörper insgesamt 15 Richter umfasst, derzeit in breiter Mehrheit konservativ besetzt ist. Bis mindestens zum Ende des Vorsitzes von Präsidentin Przyłębska Ende 2024 ist daher nicht damit zu rechnen, dass sich an der politischen, im Sinne der PiS parteinehmenden Rechtsprechung des TK Grundlegendes ändert.
Trennung von Generalstaatsanwalt und Justizminister
Die Korrektur der Personalunion von Generalstaatsanwalt und Justizminister hingegen scheint möglich. Polen ist das einzige EU-Land, in dem diese Ämter kombiniert sind. Die Trennung wäre bedeutend, da eine durch einen Politiker des Regierungslagers geleitete Staatsanwaltschaft extrem politisiert und für politische Zwecke missbraucht werden kann. Viele Beobachter werten dies seit 2016 in der Person von Zbigniew Ziobro bereits heute als gegeben.
Ein Entwurf zur Wiederauftrennung der beiden Ämter nun liegt vor. Es wird allerdings wichtig sein, einen Mechanismus für die Auswahl der Person des Generalstaatsanwalts zu finden, der auch einen gewissen Einfluss des Staatspräsidenten auf diesen Prozess berücksichtigt. Dies nicht zuletzt, weil das polnische Staatsoberhaupt Gesetzesänderungen mittels Unterzeichnung zustimmen muss. Es wird aber argumentiert, dass Präsident Andrzej Duda, der bekanntermaßen dem Lager der PiS entstammt und diesem Fakt zuletzt auch im Sejm unverhohlen Ausdruck verlieh, kein Interesse daran haben kann, die Position des Generalstaatsanwalts unter dem Einfluss der neuen Regierung zu wissen.
Ausblick
Die skizzierten Aufgaben lassen für die kommende Regierung Aussichten erkennen, die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Polen zeitnah und grundlegend einzuleiten. Dafür spricht, dass sowohl die koalierenden Partner KO, Dritter Weg und Linke, als auch zahlreiche NGO seit vielen Monaten in eine breite Fachdiskussion eingestiegen sind und effektive Lösungsansätze bereitliegen.
Eine Umsetzung rascher, tiefgreifender Reformen ist dennoch nicht absehbar. Zu schwer wiegt trotz des Wahlsiegs der demokratischen Kräfte die verbliebene Macht von Verfassungsgericht und Staatspräsident als Veto-Player der Regierung im polnischen Gesetzgebungsprozess.
Die Koalition wird daher voraussichtlich zunächst Legislativmaßnahmen ergreifen, die der EU und der Gesellschaft signalisieren, dass Polen von nun an die Regeln der Rechtsstaatlichkeit respektieren und die Unabhängigkeit der Gerichte achten wird. Ferner wird die Regierung die Spannungen zwischen Exekutive und Judikative zu verringern suchen. Sie wird die Verfolgung von Richtern wegen der Anwendung von EU-Recht stoppen. Und sie wird versuchen, Staatspräsident Duda soweit möglich in Gesetzesvorhaben einzubinden, damit er nicht von seinem Veto-Recht Gebrauch macht. Sollte das keinen Erfolg zeigen, bleibt der Regierung als letztes Mittel nur, im Wege der Forcierung der öffentlichen Debatte zusätzlichen Druck auf den Präsidenten zu erzeugen oder auf neue politische Rahmenbedingungen nach Ende der Präsidentschaft Duda im Jahr 2025 zu setzen. Die PiS hatte acht Jahre Zeit, den polnischen Rechtsstaat zu desavouieren und zu beschädigen - es wird Jahre dauern, die juristische Zeitenwende zu einem guten Ende zu bringen.
David Gregosz ist Volkswirt und Politikwissenschaftler. Er leitet seit 2020 das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Warschau.
Thomas Behrens ist Politikwissenschaftler. Er arbeitet seit 2019 als Projektkoordinator im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Warschau.
Quelle: ntv.de