Monologe über den KriegVon den Erschießungen will Putin mehr hören
Von Hubertus VolmerDer russischen Wirtschaft geht es gut, der Krieg ist ein Spaziergang und schuld sind immer die anderen - auch in diesem Jahr gewährt Putin dem Volk seine Live-Audienz. Einem britischen Reporter sagt er: "Sie führen Krieg gegen uns, nicht wir."
Alle Jahre wieder bemüht sich der russische Herrscher in ein Kongresszentrum in der Nähe des Kreml, um Monologe zu allen möglichen Themen vorzutragen, unterstützt von Fragen, die Journalisten und handverlesene Bürger stellen dürfen. Vor einem Jahr dauerte die Veranstaltung viereinhalb Stunden. Darunter wollte Putin es in diesem Jahr offenbar auch nicht machen.
Die Botschaft der Sendung, die unter dem Titel "Der direkte Draht" im russischen Staatsfernsehen übertragen wird, ist immer dieselbe: Im Großen und Ganzen läuft alles super, und wo es Probleme gibt, kümmert sich der Präsident persönlich. In Krisenjahren weicht Putin gelegentlich von dieser Linie ab. Dann lautet die Botschaft: Ja, es gibt Probleme, aber die Regierung ist schuld, nicht der Präsident. Und im Großen und Ganzen läuft natürlich alles super.
Mehr als zwei Millionen Fragen waren laut Moderatoren in diesem Jahr im Vorfeld der Sendung eingereicht worden, die meisten aus dem Bereich der Sozialpolitik. Der offiziellen Statistik zufolge stand das Thema der russischen "Spezialoperation" nur an fünfter Stelle; noch immer wird der andauernde russische Überfall auf die Ukraine im russischen Staatssprech "spezielle Militäroperation" genannt. Die Formel hat sogar eine Abkürzung, SWO. Das klingt viel harmloser als Krieg.
"Wir haben viele Freiwillige, die sich freiwillig melden"
Trotz des angeblich nur geringen Interesses der Russen an Krieg und Frieden ist es für Putin das wichtigste, das erste Thema: Das als Stichwortgeber fungierende Moderatorenduo steigt direkt damit ein. Putin sagt, was er immer sagt: Die Ukraine habe angefangen, und zwar mit dem "Staatsstreich" 2014. 2022 habe "das Regime in Kiew" dann "den Krieg im Osten der Ukraine entfesselt". Wegen der "Russophobie und so weiter" habe Russland eingreifen müssen - all die Unwahrheiten, die Putin seit Jahren verbreitet.
Auch heute wolle die Ukraine den Konflikt nicht friedlich beilegen, sagt Putin. Zugleich spricht er über "Signale von Seiten des Kiewer Regimes, dass sie bereit sind, irgendeinen Dialog zu führen".
Vor allem aber will Putin der Welt und den Russen mitteilen, dass die Spezialoperation planmäßig voranschreitet. "Wir haben viele Freiwillige, die sich freiwillig für die Front melden, um ihr Land und das Interesse ihres Volkes zu verteidigen", behauptet der Diktator.
"Wie die Nazis"
Gleich zu Beginn der Veranstaltung zählt er mehrere Städte in der Ukraine auf, in denen die Russen schon "50 Prozent des Stadtgebiets" eingenommen hätten. Insgesamt stellt er den Krieg als Spaziergang dar. Warum das, was ursprünglich mal als Blitzkrieg geplant war, mittlerweile fast vier Jahre dauert, erklärt Putin nicht.
Einen Kommandeur, der an der "Befreiung" der ukrainischen Stadt Siwersk beteiligt gewesen sein soll, präsentiert Putin als Kronzeugen. "Ich war ein einfacher Sturmsoldat und jetzt bin ich Kommandeur", trägt der Mann vor. Putin korrigiert: Der Kommandeur sei sogar nur ein einfacher Fahrer gewesen "und jetzt ist er ein Held der Russischen Föderation". Von den 157 Soldaten in seiner Sturmkolonne seien nur vier Personen bei der Einnahme von Siwersk getötet worden, berichtet der Mann.
Kronzeuge ist er auch für angebliche ukrainische Kriegsverbrechen: "Wie die Nazis" hätten die Ukrainer Zivilisten in der Stadt erschossen, nur weil diese hätten dort bleiben wollen, sagt er. Die Moderatorin muss ein bisschen bohren, damit er erzählt, die Bevölkerung von Siwersk sei "sehr froh" gewesen, die russischen Soldaten zu sehen.
Von den Erschießungen will Putin mehr hören. "Ja, gerade die jungen Leute, dreißig bis vierzig Jahre, sie wurden einfach rausgeführt und erschossen", bestätigt der Kommandeur. Alle? "Ja, alle."
"Im Ganzen sind das sehr gute Kennzahlen"
Es ist nicht das einzige Mal, dass Putin der Ukraine oder "dem sogenannten Westen" Taten oder Motive unterstellt, die Russland vorgeworfen werden. In Putins Welt läuft auch die russische Wirtschaft gut, die europäische dagegen nicht. Die Inflation werde zum Ende des Jahres unter 6 Prozent sinken, verkündet Putin, auf 5,7 oder 5,8 Prozent. Das Tempo bei den Lohnerhöhungen sei "nicht so gut wie letztes Jahr, aber in meinen Augen immer noch gut". Leider sei das Produktivitätswachstum bescheiden, "die Arbeitsproduktivität müssen wir verbessern", aber "im Ganzen sind das sehr gute Kennzahlen".
Als ein Journalist aus Nowosibirsk nach einem Forschungsprojekt in seiner Heimat fragt, räumt Putin ein, dass es wegen der westlichen Sanktionen einige Verzögerungen gegeben habe, "aber wir haben es geschafft, das Vorhaben abzuschließen". Selbst westliche Wissenschaftler kämen mittlerweile zurück nach Russland. Zur Begründung würden sie sagen: "Wir machen uns Sorgen um unsere Kinder, sie (im Westen) in die dortigen Schulen zu schicken." Russland dagegen schütze "Gottseidank unsere nationalen Werte".
"Jetzt gefällt der EU der Kampf gegen Neonazis nicht, demnächst vielleicht der Kampf gegen LGBTQ"
Putin wird von der Moderatorin auch auf die russischen Staatsgelder angesprochen, mit denen die Europäische Union die Ukraine unterstützen wollte. Sie sagt, die EU habe das Geld "stehlen" wollen. Auch hier korrigiert Putin: Stehlen sei nicht der korrekte Begriff, denn ein Diebstahl laufe heimlich ab. Was die EU geplant habe, sei Raub gewesen. Sie hätten es jedoch nicht gemacht, weil die Konsequenzen für die Räuber hart gewesen wären.
Zur Begründung sagt Putin, viele Länder hätten Geld in der Europäischen Union angelegt. Die müssten nun fürchten, ihr Vermögen ebenfalls zu verlieren. Jetzt habe die EU etwas gegen den russischen Kampf "gegen die Neonazis in Kiew", demnächst gefalle ihr vielleicht der Kampf gegen die LGBTQ-Bewegung nicht, wie muslimische Länder ihn führen würden; Putin stellt Russland seit Jahren als Sperrspitze im Kampf gegen die angeblich verkommene westliche Moral dar.
"Die Lage ist schwierig, wir sind nicht optimistisch"
Immer wieder wird eingeblendet, wie lange die Sendung schon läuft - Subtext: wie lange Putin durchhält - und wie viele Fragen mittlerweile eingereicht wurden. Nach etwa einer Stunde sind es mehr als 2,8 Millionen. "Die Zeit vergeht wie im Fluge", sagt Kreml-Sprecher Dmitri Peskow nach zwei Stunden. Irgendwann wird bei den Fragen die Drei-Millionen-Marke überschritten. Und Putin löst ein Problem nach dem anderen. Es geht um Fischpreise, Immobilienkredite, Kindergeld und immer wieder um die russische Geburtenrate, die Putin nach oben treiben will.
Kristina aus Nowosibirsk, deren Mann 2024 als Soldat in der Ukraine getötet wurde und die zwei Kinder im Alter von vier und sechs Jahren hat, fragt, wo ihre Hinterbliebenenrente bleibe. Putin entschuldigt sich und verspricht, sich persönlich um ihren Fall zu kümmern. Eine Fernsehjournalistin fragt nach Telefonbetrügern, die es offenbar auch in Russland gibt. Putin warnt davor, am Telefon über Geldangelegenheiten zu sprechen. Ein Bäcker aus der Ljuberzy südlich von Moskau mit CCCP-Mütze auf dem Kopf (der russischen Abkürzung für die Sowjetunion) beschwert sich über eine neue Steuer, die zu erheben zusätzliche Kosten verursache.
"Wir verstehen, dass unser Land in einer schwierigen Lage ist, wir verstehen, dass die Steuern erhöht werden müssen", sagt der Bäcker, aber "die Lage ist schwierig, wir sind nicht optimistisch". Auf das konkrete Problem des Bäckers will Putin die Regierung aufmerksam machen, der er nach russischem Verständnis nicht angehört. Dann fragt er, ob der Mann ihm vielleicht etwas Leckeres schicken könnte. "Mit Vergnügen."
"Sie führen Krieg gegen uns, nicht wir"
Auch westliche Journalisten dürfen Fragen stellen. NBC-Reporter Keir Simmons sagt, angesichts der ukrainischen Zugeständnisse sei doch Putin im kommenden Jahr für den Tod von Russen und Ukrainern verantwortlich, wenn es keinen Deal gebe - ein Vorwurf, den man dem russischen Herrscher schon seit 2022 machen muss. Putin entgegnet, "der Ball ist vollständig im Feld unserer sogenannten westlichen Gegner". Dann betont er noch, wie ernsthaft die Friedensbemühungen von US-Präsident Donald Trump seien. "Wir halten uns nicht für verantwortlich für den Verlust von Leben, denn nicht wir haben den Krieg begonnen", so Putin. Mit Trump sei er ja einig: "Beim Treffen mit Präsident Trump in Anchorage haben wir unsere Positionen abgestimmt und uns fast vollständig auf seine Vorschläge geeinigt."
Auf die Frage eines BBC-Journalisten sagt Putin, es werde "keine weiteren Militäroperationen geben, wenn ihr uns mit Respekt behandelt". Dem Reporter hält er entgegen: "Sie führen Krieg gegen uns, nicht wir. Sie führen Krieg gegen uns mit Hilfe der ukrainischen Neonazis. Wir sind bereit, den Krieg sofort zu stoppen, wenn die russische Sicherheit auf mittlere und lange Sicht garantiert wird." Die "europäische Elite" nutze Russland als Feindbild, um eigene Fehler zu verbergen.
In Putins Welt sind es wirklich immer die anderen.
