Zwiespältiges Bild In der Ukraine erinnert man sich vor allem an Nawalnys Sandwich-Zitat


Proteste gegen Nawalnys Inhaftierung gab es 2021 auch vor der russischen Botschaft in Kiew.
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Es wäre unfair, Alexej Nawalny einen russischen Imperialisten vom Schlage Putins zu nennen. Dennoch war sein Ruf in der Ukraine durchwachsen. Das hat mit einem Satz aus dem Jahr 2014 zu tun.
Da Ukrainer täglich von der russischen Armee getötet werden, wird die Zunahme der politischen Repression in Russland hierzulande höchstens am Rande verfolgt. Nach Angaben der kurz vor der vollumfänglichen Invasion vom Moskauer Stadtgericht aufgelösten Menschenrechtsorganisation Memorial hat sich die Zahl der politischen Häftlinge in Russland seit der Krim-Annexion 2014 um das 15-Fache erhöht und beträgt nun rund 600 Menschen. Das ist viel, aber nicht mit den Opfern Russlands in der Ukraine zu vergleichen. Allein in Mariupol kamen Zehntausende ums Leben.
Trotzdem hat der Tod des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny auch in der Ukraine für Aufsehen gesorgt, auch die ukrainischen Nachrichtenportale reagierten mit Eilmeldungen und Aufmachern. Obwohl die Einstellung der Ukrainer zu Nawalny immer zwiegespalten war, freut sich bis auf vereinzelte Spötter im Netz niemand über seinen Tod. Denn der Mord an dem mit Abstand wichtigsten Putin-Gegner, der unumstrittenen Nummer eins innerhalb der russischen Opposition, mit Charisma und beeindruckendem rhetorischem Talent, ist auch für die Ukraine keine gute Nachricht.
"Sandwich mit Wurst"
Nawalnys Umstrittenheit in Kiew und Umgebung hatte im Kern wenig damit zu tun, dass er in seinen früheren Jahren mit nationalistischen Thesen geliebäugelt hat. Vielmehr ist sie auf die bewusste Entscheidung des Politikers zurückzuführen, so viele Menschen in Russland zu erreichen wie möglich.
Bei den Ukrainern hängengeblieben ist sein berühmter Satz aus einem Interview mit dem inzwischen geschlossenen Rundfunksender Echo Moskwy: "Ist die Krim irgendein Sandwich mit Wurst, das man hin und her zurückgeben kann?", sagte er damals, im Herbst 2014, wenige Monate nach der illegalen Annexion der ukrainischen Halbinsel durch Russland. Nawalny stand zu diesem Zeitpunkt schon unter Hausarrest, der Chefredakteur von Echo Moskwy, Alexej Wenediktow, musste für das Interview zu ihm in die Wohnung fahren. Nawalny verurteilte die russische Krim-Annexion zwar als völkerrechtswidrig, vertrat jedoch die Meinung, dass die Krim-Bewohner selber entscheiden sollten, zu wem sie gehören wollen - und dass es kaum möglich sei, dass die Halbinsel faktisch in den ukrainischen Staat zurückkehren würde.
Diese Position musste Nawalny mit der Zeit korrigieren. Ein Jahr nach dem russischen Überfall, am 24. Februar 2023, veröffentlichte er seinen Plan des Kriegsendes, der den Rückzug Russlands aus allen ukrainischen Gebieten nach den international anerkannten Grenzen von 1991 vorsah. Trotzdem erinnern sich die Ukrainer bis heute an das Sandwich-Zitat. Schließlich markiert die Annexion der Krim den eigentlichen Beginn des russisch-ukrainischen Krieges. Aus dieser Perspektive findet Ende Februar nicht der zweite Jahrestag des russischen Überfalls statt, sondern der zehnte.
Nawalny versuchte, auch außerhalb der liberalen Blase zu wirken
Seit dem Februar 2022 achten Ukrainer allerdings nicht mehr so darauf, was russische Oppositionelle sagen - zu sehr ist das Land mit dem schlichten Überleben beschäftigt. Auch ist es zweifellos so, dass unklar bleibt, was eine Zusammenarbeit mit der machtlosen und größtenteils im Ausland befindlichen Opposition überhaupt bringen soll. Aus ukrainischer Sicht ist es sinnvoller, alle diplomatischen Bemühungen auf Waffenlieferungen, gemeinsame Rüstungsprojekte und den Erhalt finanzieller Hilfen zu richten.
Falsch wäre es indessen, auf der Basis von Nawalnys Krim-Äußerungen zu dem Schluss zu kommen, dass auch er nur ein russischer Imperialist war, wie Putin einer ist. Alexej Nawalny war einer der wenigen russischen Oppositionellen, die versuchten, die Russen außerhalb der kleinen liberalen Bubble zu erreichen - und selbst in dieser gab es reichlich Menschen, die die Krim-Annexion lediglich in der Form für falsch hielten, im Prinzip aber eher dafür waren. Eine klare Positionierung zur unbedingten Rückgabe der Halbinsel wäre in Russland niemals mehrheitsfähig gewesen, deswegen ist es nicht sonderlich überraschend, dass Nawalny nach einem Mittelweg suchte und Interviews mit bekannten ukrainischen Journalisten wie Dmytro Gordon gezielt vermied, um dem Thema aus dem Weg zu gehen.
Ohnehin wäre die Befürwortung einer Rückgabe durch Nawalny in Russland eine Straftat gewesen, da die Krim als Teil Russlands dort in der Verfassung festgeschrieben ist. Was die mit dem Kreml abgesprochene pseudoliberale Präsidentschaftskandidatin Xenija Sobtschak 2018 behaupten durfte, war für Putins persönlichen Feind keine Option.
Die Militarisierung Russlands wurde übersehen
Aufgrund der offensichtlichen Beteiligung Russlands am Donbass-Krieg war es für viele Ukrainer auch unverständlich, dass Nawalnys Team sich auf das Thema der Korruptionsbekämpfung konzentrierte. Auf eine gewisse Art und Weise hat dies tatsächlich zur Verdrehung der Optik beigetragen: So entstand der Eindruck, dass Menschen, die ihre Jachten und Paläste so lieben, einen großen, offenen Krieg nicht riskieren würden. Die voranschreitende Militarisierung Russlands, die eigentlich offensichtlich war, wurde so übersehen.
Der Vorwurf aber, Nawalny und seine Mitstreiter seien nicht in der Lage gewesen, bedeutende Proteste gegen Putin auf die Beine zu stellen, ist nicht gerecht. Für die Ukrainer, die 2004 und 2014 zwei erfolgreiche Revolutionen durchführten, mögen Straßenproteste selbstverständlich sein. Die Orange Revolution und die Maidan-Revolutionen waren aber nicht zuletzt deswegen möglich, weil es bei allen Repressionen freie Medien und Oppositionsparteien im Parlament gab.
In Russland ist das längst nicht mehr der Fall. Die Schuld dafür trägt nicht Nawalny, sondern die gesamte russische Gesellschaft, die sich Anfang der Nullerjahre entpolitisieren ließ und mit der vermeintlichen wirtschaftlichen Stabilität der Putin-Zeit im Tausch gegen die eigenen Rechte arrangierte. Schritt für Schritt wurden Institutionen abgebaut - und Russland hat sich letztlich zu einem beinahe totalitären Staat entwickelt. Eine "gelenkte Demokratie" ist es spätestens seit dem 24. Februar 2022 nicht mehr.
Gute Beziehungen mit Russland wird die Ukraine in den absehbaren Jahrzehnten auch in der Ära nach Putin nicht pflegen. Zu groß, zu schmerzhaft sind die Wunden des russischen Angriffskrieges. Doch obwohl einige Ukrainer vom völligen Zerfall Russlands träumen, wäre ein halbwegs normaler, vernünftiger, stabiler Staat jenseits der eigenen Grenzen, der die Ukraine in Ruhe lässt, das beste Zukunftsszenario. Gut möglich, dass Alexej Nawalny bei all seinen Nachteilen jemand war, der dies hätte erreichen können.
Quelle: ntv.de