Wütende Proteste in Tel Aviv Irrtümliche Tötung von Geiseln erschüttert Israel
16.12.2023, 10:51 Uhr Artikel anhören
Die Demonstranten fordern ein neues Abkommen zur Befreiung der Geiseln aus der Gewalt der Hamas.
(Foto: IMAGO/UPI Photo)
Im Norden des Gazastreifens erschießen israelische Soldaten bei einem Einsatz drei Geiseln, die sie versehentlich für Hamas-Terroristen halten. Die Verwechslung löst Entsetzen in Israel aus. Die Armee bedauert den tragischen Vorfall, will sich dadurch aber nicht vom erklärten Kriegsziel abbringen lassen.
Israels Streitkräfte sind nach der versehentlichen Tötung von drei Geiseln im Gazastreifen zu erhöhter Vorsicht angewiesen worden. "Wir haben unseren Soldaten gesagt, dass sie zusätzliche Vorsicht walten lassen sollen, wenn sie mit Personen in Zivilkleidung konfrontiert werden", sagte der israelische Armeesprecher Jonathan Conricus dem US-Fernsehsender CNN. Noch sei ungeklärt, wie es zu dem Vorfall kommen konnte.
Der Sprecher wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass viele Kämpfer der islamistischen Hamas in Zivilkleidung gegen Israels Armee kämpften. "Ein trauriges Ereignis wie dieses wird unsere Entschlossenheit nicht erschüttern und uns nicht von unserem klaren Ziel ablenken, die Hamas zu zerschlagen", betonte Conricus.
Die Armee hatte am Freitagabend bekanntgegeben, dass die eigenen Streitkräfte während eines Einsatzes in der Hamas-Hochburg Schedschaija im Norden des abgeriegelten Küstenstreifens die drei männlichen Geiseln fälschlicherweise als Bedrohung identifiziert und auf sie geschossen hätten. Es sei bisher unklar, wie sie in das Gebiet des Kampfgeschehens geraten konnten. So werde untersucht, ob sie ihren Entführern entkommen oder absichtlich zurückgelassen worden seien, hieß es.
Die Kämpfe fänden in einer zivilen und daher sehr herausfordernden Umgebung statt, sagte Conricus. So seien fast alle gegnerischen Einheiten, die die israelischen Truppen mit Panzerbüchsen angriffen, in Zivil gekleidet.
Israel trauert um getötete Geiseln
Die versehentliche Tötung der Geiseln hat tiefe Erschütterung in Israel ausgelöst. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bezeichnete den Vorfall als "unerträgliche Tragödie" und erklärte: "Der gesamte Staat Israel trauert an diesem Abend."
Die Armee äußerte "tiefstes Bedauern über den tragischen Vorfall". Dieser werde untersucht, "sofortige Lehren" seien daraus gezogen und an alle israelischen Einheiten übermittelt worden. Armeesprecher Daniel Hagari versprach eine "transparente Untersuchung".
Nach seinen Angaben hatten die Soldaten die drei Geiseln "versehentlich als Bedrohung identifiziert". Daraufhin hätten die Soldaten auf die Geiseln geschossen, "und sie wurden getötet". Laut Hagari vermutet die israelische Armee, dass die drei Geiseln entweder der Hamas entkommen oder von ihren Entführern freigesetzt worden waren. "Wir kennen die Details noch nicht", sagte der Armeesprecher.
Die Leichen der drei Geiseln wurden Armeeangaben zufolge nach Israel gebracht. Die israelischen Streitkräfte identifizierten die versehentlich Getöteten als den 26-jährigen Alon Lulu Schamris und den 28-jährigen Heavy-Metal-Schlagzeuger Jotam Haim, die beide aus dem Kibbuz Kfar Asa entführt worden waren, sowie den 25-jährigen Beduinen Samer El-Talalka aus dem Kibbuz Nir Am.
Neuer Geisel-Deal gefordert
Während sich die Nachricht von der versehentlichen Tötung der drei Geiseln verbreitete, versammelten sich am Abend vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv hunderte Demonstranten. Unter ihnen waren Angehörige von Geiseln. Die Protestierenden forderten ein rasches neues Abkommen zur Freilassung der verbliebenen Geiseln. In der Menge wurden israelische Fahnen geschwenkt und Plakate mit Porträts von Geiseln hochgehalten. "Jeden Tag stirbt eine Geisel" stand auf einem der Plakate.
"Wir sind nach einem niederschmetternden Abend hier versammelt, und ich sterbe vor Angst", sagte der Demonstrant Merav Svirsky, dessen Bruder als Geisel in den Gazastreifen verschleppt wurde. "Wir fordern, dass es jetzt ein Abkommen gibt."
Im Rahmen einer zwischen Israel und der Hamas vereinbarten Feuerpause waren Ende November im Verlauf einer Woche etwa hundert Geiseln freigelassen worden. Im Gegenzug ließ Israel 240 palästinensische Häftlinge aus den Gefängnissen frei. Das Abkommen war von Katar, Ägypten und den USA vermittelt worden.
Bemühungen um zweite Feuerpause
Das Nachrichtenportal "Axios" berichtete am Freitagabend, dass der Direktor des israelischen Geheimdienstes Mossad, David Barnea, an diesem Wochenende mit dem katarischen Regierungschef Mohammed ben Abdelrahmane Al-Thani in Europa zusammentreffen werde. Dabei solle es um eine zweite Feuerpause zur Freilassung von Geiseln gehen. Angaben zum genauen Ort des Treffens und zur Zahl der Geiseln, die freigelassen werden könnten, machte "Axios" nicht.
Die von der EU und den USA als Terrororganisation eingestufte Hamas hatte nach ihrem Großangriff auf Israel am 7. Oktober rund 250 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Hamas-Kämpfer waren in israelische Orte eingedrungen und hatten dort Gräueltaten an Zivilisten verübt. Israelischen Angaben zufolge wurden mehr als 1130 Menschen getötet.
Quelle: ntv.de, gut/dpa/AFP