Politik

Nachtleben mit Kriegsdilemma Kiew tanzt und lacht trotzdem

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Getanzt wird auch, aber der Krieg ist in den Clubs von Kiew das alles beherrschende Thema.

Getanzt wird auch, aber der Krieg ist in den Clubs von Kiew das alles beherrschende Thema.

(Foto: AP)

So richtig wohlfühlen sich die Clubbesucher beim Feiern nicht, aber die Sehnsucht nach Ablenkung ist in Kiew groß. Und so füllen sich Diskotheken und Karaokebars, während Komiker ihre Witze über posttraumatische Belastungsstörungen machen.

Nach 2017, als die Ukraine die Visafreiheit mit der EU erhielt und daher verstärkt Billigflüge zwischen Kiew und anderen europäischen Metropolen angeboten wurden, verbreitete sich der Ruf der ukrainischen Hauptstadt als Geheimtipp für Partytouristen immer weiter. Auch die Corona-Zeit spielte dabei eine Rolle. Zwar waren die Covid-Maßnahmen in der Ukraine auf dem Papier ähnlich streng wie in Deutschland. Oft haben die ukrainischen Behörden aber nicht so genau hingeschaut, was in den Bars und Clubs nachts passierte. Nicht zuletzt deswegen kam es in den letzten Jahren vor, dass in Wizz-Air- oder Ryanair-Flügen aus Berlin mehr junge Deutsche als Ukrainer saßen.

Der russische Angriffskrieg hat den Partytourismus nach Kiew größtenteils beendet. Das Nachtleben jedoch ging nach einer Pause weiter, auch wenn fraglich bleibt, ob es noch als Nachtleben definiert werden kann. Denn die Sperrstunde ist in Kiew zwar neulich um eine Stunde verkürzt worden, aber trotzdem dürfen sich zwischen 0 und 5 Uhr nur Personen mit Ausnahmegenehmigung draußen aufhalten. Für die Bars und Clubs bedeutet das, dass sie selbst freitags und samstags spätestens um 23 Uhr schließen müssen. Anders als bei Covid traut sich kaum jemand, gegen die Kriegsrechtsregeln zu verstoßen.

Moralisches Dilemma beim Tanzen

Es ist auch eine völlig andere Atmosphäre, die in den Clubs herrscht. In Kiewer Cafés und Restaurants sind zum Teil genauso viele Gäste zu sehen wie vor dem Krieg, was auf den ersten Blick ein vertrautes Bild liefert. In die Clubs kommen zwar mehr Menschen als im vergangenen Jahr. Aber der optische Unterschied zum Vorkriegsleben ist immer noch drastisch. "Die Menschen brauchen das Abschalten, doch sie fühlen sich beim Tanzen oder Singen unwohl. Es ist ein moralisches Dilemma, ob man sich das Feiern erlauben darf, während deine Landsleute bei Bachmut oder Awdijiwka sterben", sagt Nadija, Barkeeperin in einem Techno-Club im historischen Kiewer Bezirk Podil, eine Partygegend. "In regulären Cafés oder Restaurants gibt es dieses Dilemma so nicht, da haben die Menschen weniger Hintergedanken." Trotzdem sieht Nadija, die seit rund sechs Jahren in diesem Club arbeitet, immer öfter bekannte Gesichter: "Frühere Stammgäste verhalten sich erst sehr zurückhaltend, öffnen sich aber recht schnell. Es ist trotz allem schön, das zu beobachten."

Äußerlich erinnert vieles an die Zeit vor dem 24. Februar 2022. Dennoch ist der Krieg ständig ein Thema. In einer Rauchpause stehen Aljona und Hanna, beide Mitte 20, vor dem Eingang des Clubs. Früher haben sie gemeinsam in einer Pizzeria gearbeitet. Nun ist Kontakt seltener, aber gleichzeitig auch tiefer geworden. "Mein Freund kämpft im Bezirk Saporischschja nahe der Front. Aljonas Bruder wurde vor Kurzem auch mobilisiert, bleibt aber vorerst im Hinterland", sagt Hanna. "Wir versuchen, einander zu unterstützen. Ich gebe Aljona aus meiner Erfahrung Ratschläge, wie man mit diesem Stress umgehen kann. Sie zwingt mich dagegen quasi dazu, auch mal rauszugehen und abzuschalten. Das hilft mir sehr, ohne sie würde ich das wohl gar nicht machen."

"Ich versuche, schlicht jetzt und heute zu leben"

Ähnliche Geschichten kann nahezu jeder Besucher erzählen. Das ist ein Unterschied zwischen der heutigen Realität und 2014/2015, als der Krieg im Osten ausbrach. Außenstehende könnten in Kiew denken, das Leben in der Stadt unterscheide sich - abgesehen von Luftalarm, Sperrstunde und Raketeneinschlägen - kaum von der Normalität. Die Restaurants sind ja voll und die Menschen wirken eben halbwegs normal. Doch während 2014 und 2015 der Alltag trotz des Kriegs im Donbass tatsächlich ganz regulär weiterging, ist das nun deutlich anders. Das ist selbst in einem Nachtclub zu spüren. Dieses Mal ist wirklich jeder und jede auf die eine oder andere Weise betroffen, auch durch die verstärkt laufende Mobilmachung, die nötig ist, weil die Russen ebenfalls mobilisieren. 2014 war die Wahrscheinlichkeit, mobilgemacht zu werden, ausgesprochen gering. Je länger der aktuelle Krieg aber dauert, desto höher die Chance für jeden einzelnen, in absehbarer Zeit dienen zu müssen. "Das ist halt die Realität. Deswegen versuche ich, schlicht jetzt und heute zu leben", sagt etwa der langhaarige Software-Entwickler Pawlo, ebenfalls Mitte 20, mit einem Gin Tonic in der Hand.

Techno-Clubs und Hipster-Bars repräsentieren aber nur einen Teil des Kiewer Nachtlebens. Sie werden meist von jüngeren Leuten besucht, die sich für Politik interessieren und nicht nur politisch, sondern auch in Sachen Popkultur mit Russland abgeschlossen haben. Die gefühlte Mehrheit der Menschen hatte nach 2014 zwar keine Sympathien mehr für Wladimir Putin, lebte aber noch im gemeinsamen Kulturraum mit Russland. Russischer Pop und Rap dominierte ukrainische Charts, russische Stand-up-Sendungen waren in den Youtube-Trends ganz vorn. Auch in den meisten Clubs und in den in Kiew sehr beliebten Karaoke-Bars erklangen russische Popsongs.

Stand-up im Keller erlebt im Krieg einen Aufschwung

Das ist größtenteils vorbei. Die ukrainische Stand-up-Comedy hat sich zum Beispiel völlig gegen die russische Konkurrenz durchgesetzt. Stand-up war in der Ukraine auch vor der vollumfänglichen russischen Invasion beliebt, große Teile der Szene wurden jedoch ähnlich wie die Welt der Popmusik von Russland dominiert. Giganten wie Gazprom Media investierten stark in unterschiedliche Shows, die dann auch in der Ukraine millionenfach auf Youtube geklickt wurden. "Die Ukrainer waren zwar auch vor dem Überfall konkurrenzfähig. Erst nach dem Angriff sind die Views der ukrainischen Komiker aber wirklich um das Mehrfache gestiegen", urteilt Halyna Petrenko, eine prominente Medienexpertin und Direktorin der NGO Detector Media. Im realen Leben und nicht auf Youtube seien darüber hinaus vor allem zwei Faktoren ausschlaggebend gewesen: dass Satire zur aktuellen Lage besser zu passen schien als andere Unterhaltung sowie dass Stand-up-Auftritte meist in Kellerbars stattfinden, die während eines Luftalarms nicht schließen müssen.

"Underground Stand-up" gibt es bereits seit fünf Jahren.

"Underground Stand-up" gibt es bereits seit fünf Jahren.

(Foto: AP)

"Es ist aus vielerlei Hinsicht ein teils merkwürdiges Gefühl, dass es uns als Branche besser geht als vor dem Krieg", sagt Swjatoslaw Sagajkewytsch, ein 33-Jähriger aus Kiew, Gründer des inzwischen führenden Projekts Underground Stand-up. "Wir haben uns immer wieder weiterentwickelt, und ich würde den aktuellen Erfolg keinesfalls lediglich auf den Krieg reduzieren. Wir hätten mit dem Talent unserer Komiker sowieso viel erreicht." Der russische Angriffskrieg hat den Erfolg von Underground Stand-up aber stark beschleunigt: Statt zwei Konzerte pro Woche wie früher sind es nun fünf. Ähnlich geht es auch anderen Stand-up-Projekten. Außerdem treten Komiker inzwischen nicht nur in Bars und Clubs, sondern ein- bis zweimal pro Monat auch im Kiewer Oktoberpalast auf, einer Kiewer Show-Institution. Während bei regulären Shows rund 20 Prozent der Einnahmen an die ukrainischen Streitkräfte gehen, wird bei solch großen Konzerten 100 Prozent an die Armee gespendet.

"Nach dem 24. Februar 2022 brauchte ich rund fünf Tage, um wieder mit dem Schreiben von Witzen anzufangen", erzählt Sagajkewytsch von der Zeit des Kriegsausbruchs. "Wir haben uns dann mit anderen Komikern im Team abgesprochen und einen Stream auf Youtube organisiert, in dem wir einfach das Geschehen besprochen und versucht haben, mit Humor und Satire den Menschen Mut zu machen." Das Vorhaben hat enorm viel Zuspruch erhalten, und als die russische Armee Ende März die Vorstädte von Kiew endgültig verließ, fanden gleich wieder Live-Auftritte statt. "Die Straßen waren noch leer und man wurde alle fünf Minuten an einem Checkpoint von Polizisten oder Armeeangehörigen gestoppt", erinnert sich Dmytro Bilous, ein weiterer Komiker des Projekts. "Die Bars waren dann aber voll und die Atmosphäre war unglaublich. Alle waren so froh, einander zu sehen und endlich über etwas gemeinsam lachen zu können. Selbst Unbekannte haben einander umarmt."

Ein ukrainischer Soldat singt russische Ganoven-Chansons

Ein Jahr später ist die Stimmung ruhiger geworden. In einer Bar im Zentrum von Kiew ist sowohl den Komikern als auch dem Publikum anzumerken, dass sich die Ukraine unverändert im Krieg befindet. Gescherzt wird nicht ausschließlich über Krieg und Politik, wobei das Auslachen der russischen Generäle oder des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko großen Zuspruch findet. Doch selbst wenn es auf den ersten Blick um den reinen Alltag geht, ist die Erwähnung der aktuellen Lage unausweichlich. Bei Witzen über Tinder-Dates in der Kriegszeit spielt etwa das Thema nächtliche Sperrstunde eine große Rolle. Auch der Scherz einer Komikerin, die Ukrainer könnten keine posttraumatische Belastungsstörung haben, weil das Trauma noch nicht vorbei sei, kommt beim Publikum gut an. Er ist symptomatisch für die aktuelle ukrainische Stand-up-Comedy.

Blick ins Publikum einer Comedy-Show im Juni 2022.

Blick ins Publikum einer Comedy-Show im Juni 2022.

(Foto: AP)

Während die meisten Komiker aktuell nur auf Ukrainisch scherzen, ist die russischsprachige Musik noch nicht völlig verschwunden. Es werden durchaus noch russischsprachige Lieder von ukrainischen Künstlern wie Monatik oder Switlana Loboda gespielt, die auch in Russland Erfolg hatten. Aktuelle Hits direkt aus Russland hört man dagegen kaum noch, schon weil das öffentliche Abspielen von Liedern russischer Künstler, die den Angriffskrieg nicht öffentlich verurteilt haben, inzwischen gesetzlich untersagt ist.

Ganz verschwunden ist die russische Musik trotz des Verbots nicht. Dies zeigt etwa ein surreal wirkender Auftritt in einer Karaoke-Bar im nordwestlichen Kiew im Frühjahr 2023: Ein Soldat in ukrainischer Uniform singt Lieder des russischen Sängers Michail Krug, einer der bekanntesten Vertreter des sogenannten russischen Chansons, einer Musik mit kriminellem Unterton, die unter russischen Kriminellen und Häftlingen beliebt ist. Andere Besucher sind erstaunt, sagen aber nichts. "Wir erlauben sowas normalerweise nicht, das führt nur zu Konflikten. Und wenn es gefilmt und ins Netz gestellt wird, kann es einen großen Shitstorm mit Konsequenzen für unseren Laden geben", sagt Natalija, die Managerin der Bar. "Doch was sagt man jemandem, der unser Land verteidigt und trotzdem Krug singen möchte?" Eine eindeutige Antwort hat sie nicht parat. In Kriegszeiten gibt es viele Dilemmata, die sich kaum mit einem Satz beantworten lassen.

Quelle: ntv.de

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