Kongress entmachtet sich selbst "Zerstörer" Milei reißt Argentinien an sich
27.06.2024, 07:11 Uhr Artikel anhören
Kommt mit seinen Vorhaben voran: Javier Milei
(Foto: AP)
Der Anarchokapitalist mit der Kettensäge steht vor einem enormen Erfolg. Argentiniens Kongress wird sich entmachten, Präsident Milei mit Sonderbefugnissen ausstatten und weitreichende Privatisierungen erlauben. Nun beginnt für das Experiment ein Jahr der Wahrheit.
Es könnte nur noch eine Frage von Stunden sein, bis am Rio de la Plata eine neue Zeitrechnung beginnt: die libertäre der neuen Regierung um Präsident Javier Milei. Im Zentrum von Buenos Aires votiert der argentinische Kongress ab Donnerstag abschließend über das Herzstück radikaler Reformen. Schon der erste Artikel des sogenannten Grundlagengesetzes ("ley bases") ist ein historisches Wagnis. Der Kongress entmachtet sich darin wegen eines erklärten Notstandes für ein Jahr selbst und gibt dem umstrittenen Staatschef umfassende zusätzliche Entscheidungsgewalten am Parlament vorbei.
Rund ein halbes Jahr nach Amtsantritt würde die Verabschiedung einen immensen Verhandlungserfolg für Milei bedeuten. Dessen Partei La Libertad Avanza ("Die Freiheit schreitet voran") hat keine nominelle Mehrheit im Repräsentantenhaus oder Senat, Gesetzesprojekte müssen mit Abgeordneten und Senatoren anderer Fraktionen verhandelt werden. Das ursprüngliche Grundlagengesetz war eine deutlich längere libertäre Wunschliste, die im Laufe der Verhandlungen zusammengestrichen wurde; eine radikale Abkehr von der deutlich sozialer orientierten Politik der Vorgängerregierung der Peronisten ist sie weiterhin. Bei der Verabschiedung im Senat vor zwei Wochen hatten sich Polizei und Demonstranten vor dem Kongress Straßenschlachten geliefert.
Ein weiterer Kernpunkt des Grundlagengesetzes sind weitreichende Lockmittel für Großinvestitionen im Bergbau und fossilen Brennstoffen, die es ausländischen Unternehmen schmackhaft machen sollen, sich in Argentinien und nicht anderswo in Lateinamerika zu engagieren. Das Land exportiert derzeit deutlich weniger als im lateinamerikanischen Vergleich und nur die Hälfte des weltweiten Mittelwerts. Das meiste Geld kommt derzeit von privaten Agrarexporten; mit den Erträgen aus Ausfuhrzöllen finanziert sich ein großer Teil des Staates.
Fokus auf Rohstoffe und Privatisierungen
Öl und Gas in der Region sowie Kupfer und Lithium für die Energiewende im Globalen Norden könnten in Zukunft mehr Geld ins Land fließen lassen. Schon unter der Vorgängerregierung hatten reihenweise Unternehmen in Lithiumprojekte investiert. Argentinien könnte damit in wenigen Jahren zum zweitgrößten Produzenten der Welt nach Australien aufsteigen, mit einem jährlichen Dollar-Exportwert in zweistelliger Milliardenhöhe. Für Lithiumausfuhren zahlen die Firmen derzeit jedoch nur 4,5 Prozent Exportzoll. Das ist vergleichsweise wenig: Für die so ertragreichen Sojaprodukte zahlen Agrarunternehmen 33 Prozent.
Mit dem Gesetz befugt der Kongress die Regierung außerdem zu weitreichenden Privatisierungen im Land, die zwar den Staatshaushalt entlasten, aber die Kosten auf die Bevölkerung umschichten dürften: das komplette Zugnetz, die Fernstraßen und Autobahnen, die öffentliche Wasserversorgung, Atomkraftwerke sowie verschiedene staatliche Unternehmen im Energiebereich sollen in Privatbesitz übergehen. Ganz im Sinne der Kettensäge, mit der Milei im Wahlkampf durch Argentinien gereist war; symbolisch für seinen Zerstörungswillen etablierter Strukturen.
Ausgenommen sind aktuell noch die staatseigene Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas, staatliche Medien und die Post. Mileis Regierung hat bereits angekündigt, mit einem weiteren Gesetz auch diese loswerden zu wollen. Das Arbeitsrecht wird gelockert, damit einfacher Arbeitsplätze geschaffen werden können. Aber auch hier sind tiefgreifendere Reformen nicht vom Tisch, sie könnten als eigenes Gesetz wieder auftauchen. Und wer weiß, ob Milei sie mit seinen neuen Kompetenzen nicht einfach verordnen darf.
Bislang zahlt nur die Bevölkerung
In den ersten sechs Monaten seiner Amtszeit hat sich Mileis Kurs dramatisch auf die argentinische Bevölkerung ausgewirkt. Mindestens 130.000 Arbeitsplätze sind verloren gegangen, 57 Prozent der Argentinier und damit rund 5,5 Millionen Menschen mehr liegen mit ihren Einkommen inzwischen unter der Armutsgrenze; das ist der höchste Anteil seit 20 Jahren. Noch nie haben die Argentinier so schnell so viel Kaufkraft verloren wie unter Milei. Besonders betroffen sind Beschäftigte im öffentlichen Sektor, Niedrigverdiener, Rentner und die Baubranche.
Eine der ersten Schritte Mileis war, staatlich finanzierte Bauprojekte und Instandhaltung zu stoppen. Die Folge: Die Wirtschaft ist im Jahresvergleich um 5,1 Prozent geschrumpft und das Bruttosozialprodukt nun wieder auf dem gleichen Niveau wie im Jahr 2012. Milei bezeichnete sich zuletzt in manischem Ton als "Maulwurf", der den Staat "von innen heraus zerstören" wolle. An der US-Eliteuniversität Stanford argumentierte er vor Studierenden, "der Markt" irre sich nie, und bevor Menschen verhungerten, würden sie eben eine Entscheidung treffen, die dies verhindere. Der Staat müsse also nicht eingreifen.
Nicht etwa die "Kaste" der Politiker und Peronisten, wie Milei im Wahlkampf behauptet hatte, leidet also unter seinem Kurs, sondern die Arbeiter- und Mittelschicht. Auf Kritik an der Regierung hin, weil die Menschen mit ihrem Einkommen nicht mehr bis zum Monatsende kämen, sagte Milei trotzig, das könne nicht stimmen, dann wären sie ja bereits tot. Den Internationalen Währungsfonds IWF, beileibe kein Hort des Sozialismus, bezeichnete Milei vor wenigen Tagen als zu links, weil der kritisiert hatte, Milei spare mehr auf Kosten der Bevölkerung ein, als die Organisation überhaupt fordere. Kein anderes Land hat mehr Schulden beim IWF als Argentinien.
Hoffnung auf bessere Zeiten
Der neue Präsident hatte offen angekündigt, die erste Zeit würde für die Argentinier hart. Knapp mehr als die Hälfte der Bevölkerung sieht das Land trotzdem auf dem Weg in eine bessere Zukunft und würde sich auch aktuell wieder für Kandidaten von Mileis Partei entscheiden. Der Regierung zufolge ist die Talsohle erreicht und bald werde es wieder besser. Für die Wähler und Milei selbst, der sich permanent zwischen professoral und polternd präsentiert, beginnt mit dem Grundlagengesetz und seinen Sonderkompetenzen spätestens jetzt das Jahr der Wahrheit.
Die argentinische Regierung feiert sich bereits dafür, ein kleines Plus im Haushalt erreicht zu haben, allerdings geschah dies mit Bauerntricks: Schuldrückzahlungen wurden verschoben und alle öffentlichen Bauaufträge gestoppt. Dies soll aber nach Ansicht Mileis nur der Anfang sein, der Staat soll sich so weit wie irgend möglich zurückziehen. Der libertäre Präsident brüllt dies unter dem Schlagwort "Freiheit" in die Ohren seiner Landsleute. Weil es nicht richtig voranging im südamerikanischen Land, hatten die im vergangenen Jahr in Hoffnung auf den radikalen Wandel im Sinne des selbst betitelten "Anarchokapitalisten" votiert. Dass dies nicht vergeblich war, kann Milei nun mit seinen Sonderbefugnissen beweisen.
Quelle: ntv.de