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Kesselschlacht in der Ukraine? Russland zieht die Schlinge um Awdijiwka enger

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Kampf um jedes Haus und jeden Meter: Ukrainische Soldaten halten in Awdijiwka aus.

Kampf um jedes Haus und jeden Meter: Ukrainische Soldaten halten in Awdijiwka aus.

(Foto: © Ukraine Media Centre )

Im Osten der Ukraine zeichnet sich eine militärische Katastrophe ab: Bei Awdijiwka brechen russische Truppen gleich an mehreren Stellen durch. Eine wichtige Versorgungsroute ist gekappt, den Verteidigern der Stadt droht der Einschluss. Die Führung in Kiew steht vor schweren Entscheidungen.

In der Schlacht um Awdijiwka steht die Führung in Kiew vor schwierigen Entscheidungen: An mindestens drei Stellen konnten russische Stoßtruppen in den vergangenen Tagen die ukrainischen Linien durchbrechen. Die seit Monaten heftig umkämpfte Frontstadt ist womöglich nicht mehr lange zu halten.

Im Norden von Awdijiwka stieß einer dieser Angriffskeile bis zur Landstraße T-05-05 vor. Damit ist die wichtigste ukrainische Versorgungsroute ins Stadtzentrum nahe des Kokerei-Geländes vorerst blockiert.

"Die operative Lage ist äußerst schwierig und angespannt", räumte der neue ukrainische Oberbefehlshaber Olexander Syrskyj zuletzt ein. Die Verteidiger von Awdijiwka sehen sich akut von der vollständigen Einschließung bedroht. Die russischen Angriffsspitzen nähern sich nicht nur im Norden, sondern auch im Westen. Im Süden toben seit dem russischen Überraschungsschlag Ende Januar mittlerweile bereits Gefechte innerhalb der Stadtgrenze.

Zeitgleich zu den Angriffen im Norden gelang den russischen Invasoren zuletzt ein größerer Vorstoß im Südwesten: Aus dem Raum Opytne heraus sollen sich russische Einheiten übereinstimmenden Berichten zufolge der ukrainischen Stellung namens "Zenit" angenähert haben. Der ukrainische Deckname steht für ein massiv ausgebautes Bunkersystem, das bisher den Süden von Awdijiwka deckt. Der genaue Frontverlauf ist unklar.

Satellitenaufnahme von Ende Januar 2024: Im verschneiten Gelände sind die Spuren des russischen Dauerbombardements rund um Awdijiwka als dunkle Flecken zu erkennen.

Satellitenaufnahme von Ende Januar 2024: Im verschneiten Gelände sind die Spuren des russischen Dauerbombardements rund um Awdijiwka als dunkle Flecken zu erkennen.

(Foto: Satellitenfoto © ESA / Sentinel Hub)

Auf dem Gelände einer früheren Luftabwehrbasis aus sowjetischen Zeiten halten ukrainische Truppen bereits seit 2014 allen Angriffen stand. Die alte Kontaktlinie der Minsker Abkommen verläuft nur wenige Hundert Meter entfernt. Durch die jüngsten russischen Vorstöße droht sich hier ein "Kessel im Kessel" zu bilden, wie russische Militärblogger jubeln. Ein am Abend veröffentlichtes Drohnenvideo zeigt russische Soldaten in der Stellung "Zenit". Die ukrainischen Verteidiger sollen Berichten zufolge das Bunkersystem mittlerweile aufgegeben und sich zurückgezogen haben.

Die Versorgung der Frontkämpfer wird für das ukrainische Militär immer schwieriger. Teilweise führen die letzten verbliebenen Feldwege, die sich noch unter ukrainischer Kontrolle befinden, über offenes Terrain, das von weitem einsehbar ist. Die russische Artillerie feuert aus allen Rohren, russische Kampfjets werfen die gefürchteten schweren Flügelbomben ab. Dazu kommt die ständige Gefahr durch Drohnen.

"Der Nachschub für Awdijiwka und die Evakuierung aus der Stadt sind erschwert, doch wird jetzt eine rechtzeitig vorbereitete logistische Arterie genutzt", versicherte der für den Frontabschnitt zuständige Sprecher, Dmytro Lychowij, zuletzt im ukrainischen Fernsehen. Insgesamt sei die Frontlinie stark in Bewegung und einige ukrainische Einheiten hätten sich auf "vorteilhaftere Positionen" zurückziehen müssen.

Das Industrieareal der Kokerei im Norden von Awdijiwka liegt hier im Bild oben links (großer Kreis), der Stadtkern mit der Hochhaussiedlung in der Bildmitte und die "Zenit"-Stellung im Bild unten (kleiner Kreis).

Das Industrieareal der Kokerei im Norden von Awdijiwka liegt hier im Bild oben links (großer Kreis), der Stadtkern mit der Hochhaussiedlung in der Bildmitte und die "Zenit"-Stellung im Bild unten (kleiner Kreis).

(Foto: Satellitenfoto © ESA / Sentinel Hub)

Der Blick auf die Karte offenbart das ganze Ausmaß der Bedrohung: Der zur Versorgung der Stadt verbliebene Korridor ist an der engsten Stelle nur noch knapp vier Kilometer breit. Nördlich der Festung "Zenit" waren es zeitweise nicht viel mehr als 800 Meter, die den Ukrainern blieben, um die kämpfenden Verbände mit Munition, Wasser und Lebensmitteln zu versorgen und um Verwundete abzutransportieren. Entlang der alten Umgehungsstraße nördlich des Donezker Flughafens wird heftig gekämpft.

Sturmbrigade in der "Hölle"

Die Führung in Kiew gibt die Schlacht um Awdijiwka anscheinend noch nicht verloren: Das ukrainische Militär verlegte eigenen Angaben zufolge weitere kampfstarke Verbände zur Verstärkung in die Region, darunter auch die sogenannte dritte Sturmbrigade. Ein Sprecher dieser Elite-Einheit bezeichnete die Lage in Awdijiwka kurz nach der Ankunft als "die Hölle" sowie als "bedrohlich und instabil".

Die unter anderem auch mit westlichen Waffensystemen ausgerüsteten Verbände der dritten Brigade stehen demnach bereits im Kampf. Offen ist noch, ob es den Ukrainern gelingt, die russischen Vorstöße zurückzudrängen und die Einschließung der Stadt zu verhindern. Bei einem der ukrainischen Entlastungsangriffe hätte die Brigade den russischen Invasionstruppen im Stadtgebiet schwere Verluste zugefügt, hieß es. "Die Situation zum Zeitpunkt des Eintreffens der Brigade war äußerst kritisch."

Eine Lücke in der Wolkendecke ermöglicht Anfang Februar einen Blick auf das Stadtgebiet von Awdijiwka: Der eingezeichnete Frontverlauf zeigt die mutmaßliche Lage am Morgen des 15. Februar.

Eine Lücke in der Wolkendecke ermöglicht Anfang Februar einen Blick auf das Stadtgebiet von Awdijiwka: Der eingezeichnete Frontverlauf zeigt die mutmaßliche Lage am Morgen des 15. Februar.

(Foto: ntv.de, Satellitenbild © ESA / Sentinel Hub)

Auf ukrainischer Seite scheint sich zunehmend auch der herrschende Munitionsmangel bemerkbar zu machen - insbesondere bei der Artillerie. Der stellvertretende Brigade-Kommandeur Maxym Schorin erklärt, die Kämpfe seien zudem viel heftiger als bei der Schlacht um Bachmut. Die ukrainischen Truppen seien zahlen- und waffenmäßig unterlegen.

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Die Industriestadt Awdijiwka hatte vor dem russischen Überfall auf die Ukraine vor knapp zwei Jahren noch über 30.000 Einwohner. In den Ruinen im Stadtgebiet werden noch immer Zivilisten vermutet. Um die Stadt wird seit Monaten intensiv gekämpft: Der russische Großangriff mit einer Zangenbewegung im Norden und einer im Südwesten begann am 10. Oktober 2023.

Russland und die Ukraine betrachten Awdijiwka als strategisch wichtig für die Kontrolle der ostukrainischen Industrieregionen Donezk und Luhansk im Donbass. Ende Dezember war Präsident Wolodymyr Selenskyj noch demonstrativ nach Awdijiwka gefahren. Beobachter vermuten, dass der russische Präsident Wladimir Putin die Eroberung der Stadt noch vor den russischen Präsidentschaftswahlen Mitte März verkünden will. Die Stadt Bachmut war nach monatelangen Kämpfen im Mai 2023 in russische Hände gefallen und liegt seitdem in Trümmern.

Quelle: ntv.de, mit Material von dpa und rts

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