Die "Spezialoperation" stockt Putins lahmender "Blitzkrieg"
02.03.2022, 16:03 Uhr
Stehen statt fahren: Derzeit geht es für die russischen Streitkräfte wenig voran.
(Foto: picture alliance/dpa/Sputnik)
Die Eroberung der Ukraine dürfte sich der russische Präsident Putin anders vorgestellt haben: schnell, ohne größere Anstrengung und ohne Widerstand. Doch nichts davon passiert. Die stockende Offensive liegt am Kampf der Ukrainer, aber auch an Putins Fehleinschätzung der Lage.
In der Nacht vom 23. auf den 24. Februar beginnt Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Es ist ein ungleicher Kampf. Zunächst fliegen zahlreiche Raketen aus Russland auf Flughäfen und Flugabwehrsysteme in der Ukraine, um diese kampfunfähig zu machen, dann rollen Panzer. Tausende Soldaten greifen aus Norden, Süden und Osten an. Die Ukraine ist deutlich unterlegen, zahlenmäßig und in Sachen Ausrüstung. Insofern scheint es nur eine Frage von Tagen zu sein, bis Russland die Ukraine erobert hat.
Knapp eine Woche später sind die russischen Streitkräfte weit von einem Sieg entfernt. Sie stehen zwar in großer Zahl vor der Hauptstadt Kiew, verzeichnen Gebietsgewinne im Osten und im Süden der Ukraine, aber sie befinden sich bereits jetzt in einem Abnutzungskampf.
Schon zwei Tage nach dem Start der Invasion gibt es erste Anzeichen, dass der Angriff nicht so läuft, wie ihn der russische Präsident Wladimir Putin sich vermutlich vorgestellt hat. Verbreitet werden diese Anzeichen zunächst vor allem von US-Militärs und könnten als moralische Unterstützung für die militärisch unterlegene Ukraine gewertet werden. Aber dann verdichten sich die Indizien. Bei aller Vorsicht im Umgang mit Berichten, Videos und Zahlen, die von Kriegsparteien verbreitet werden, scheint es mittlerweile so zu sein, dass der Angriff der russischen Truppen erlahmt und sogar Rückschläge erleidet.
Kamil Galeev, der für das US-amerikanische Woodrow Wilson Center, einen Think Tank, arbeitet, sieht drei zentrale Gründe dafür, die er in einem umfangreichen Twitter-Thread dargelegt hat: Putin habe seine Armee überschätzt, er habe die ukrainische Verteidigungsfähigkeit und den Verteidigungswillen von Militär und Bevölkerung deutlich unterschätzt und, das ist Galeevs zentraler Punkt, er sei mit einer völlig falschen Taktik eingefallen.
Russisches Militär wird massiv modernisiert
Zunächst erläutert Galeev, dass unter dem damaligen Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow in den Jahren 2007 bis 2012 eine deutliche Modernisierung der russischen Streitkräfte stattgefunden habe. Das war militärisch wichtig, aber extrem unpopulär. Denn Serdjukow machte sich mit seinem Vorgehen viele Feinde. Er bekämpfte Korruption und beendete die Kumpanei mit Waffenproduzenten. Sein Ziel war es, die Truppen des Landes besser aufzustellen und effizienter zu machen. Er hatte dabei durchaus Erfolg. Allerdings wuchs dadurch die Zahl seiner innenpolitischen Gegner derart, dass er 2012 seinen Hut nehmen musste. Sein Nachfolger Sergej Schoigu verstand es, sich das Wohlwollen aller Beteiligten zu sichern, indem er nicht gegen Korruption vorging, es sich nicht mit Waffenlieferanten verscherzte.
So kam es, dass Russland sich vom Effizienzgedanken verabschiedete. Galeev beschreibt, dass es wirtschaftlich so gut wie unmöglich ist, sowohl ein Top-Landheer als auch eine Top-Marine aufzubauen und zu unterhalten. Russland habe genau das versucht. Galeev erkennt hier den Geist der Sowjetunion, der um jeden Preis erhalten bleiben sollte. Putin und Schoigu steckten viel Energie in die Marine - bis 2027 sollen 70 Prozent aller Schiffe aus neuer Produktion stammen. Das geht, schreibt Galeev, zulasten der Landstreitkräfte, und das zeige sich in der Ukraine.
"Blitzkrieg" ohne Nachschub
Die kolportierte Zahl von 150.000 Soldaten, die in Belarus und Russland an den Grenzen zur Ukraine zusammengezogen wurden, sieht Galeev nicht als sonderlich groß. Die russische Armee besitze zwar viel Artillerie, diese sei aber nicht ausreichend, um den Sieg davonzutragen. Und das liege an der falsch gewählten Taktik Putins und seiner Generäle. Die gingen nämlich offenbar davon aus, dass es ausreiche, die Ukraine mit einer einzigen Angriffswelle zu erobern. Galeev nennt hier den "Blitzkrieg" der Nazis als Beispiel. Dabei rückten Truppen der ersten Angriffswelle so schnell wie möglich in ein Land ein und attackierten wichtige Zentren. Dann rückten weitere Einheiten in einer zweiten und dritten Welle zügig nach. Ihre Aufgabe war es, Kämpfer auszuschalten, die die Soldaten der ersten Welle nicht getötet oder gefangengenommen hatten. Weiter sollten sie für die Kontrolle der eroberten Gebiete und für Nachschub sorgen.
Auch Putins Truppen stoßen schnell vor und verzeichnen zügig Landgewinne. Bereits am Freitag soll es Kämpfe rund um Kiew gegeben haben - die ukrainische Hauptstadt liegt immerhin knapp 150 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Aber Putins Soldaten fehlen die zweite und die dritte Angriffswelle, so Galeev.
Den Grund sieht der Wissenschaftler darin, dass Putin nicht davon ausging, einen richtigen Krieg führen zu müssen. Die russische Bezeichnung der Invasion als "Spezialoperation" mag vor allem propagandistische Gründe haben. Allerdings führt Galeev aus, dass Putin wohlmöglich selbst daran glaubte. Putin sei ein Mann des Geheimdienstes, nicht des Militärs. Er war lange Offizier des russischen Geheimdienstes KGB, zudem war er Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB. Militär und Geheimdienste stehen in Russland traditionell im Konflikt.
Diese Art von Krieg ist für Putin neu
Galeev weist auf einen weiteren Punkt hin: Wenn Putin militärisch aktiv wurde, geschah das immer gegen unterlegene Gegner und mit vergleichsweise geringen Risiken. Die Einsätze in Tschetschenien, Georgien und Syrien waren letztlich erfolgreiche Missionen der russischen Streitkräfte. In Georgien und Syrien war das Ziel nicht, eine Regierung zu stürzen und ein ganzes Land zu kontrollieren, sondern nur, wie später in der Ukraine, Separatistengebiete zu installieren. Und vor allem in Tschetschenien und Syrien ging die russische Armee mit großer Rücksichtlosigkeit gegen die Zivilbevölkerung vor. Zur "Befreiung" eines Brudervolks passt das nicht.
Zwar ist die Ukraine flächenmäßig deutlich größer als Tschetschenien, Georgien oder Syrien. Aber laut Galeev vertraute Putin diesmal auf Erfolge aus dem Jahr 2014. Damals war die ukrainische Armee sowohl auf der Halbinsel Krim als auch im Donbass chancenlos.
Die Ukraine lernt aus ihrer Niederlage
Infolge ihrer Niederlage von 2014 modernisierte die Ukraine ihre Streitkräfte. Galeev geht davon aus, dass durch den stetigen Austausch der Truppen an der Frontlinie zu den Separatistengebieten über die Jahre rund 400.000 ukrainische Soldaten Kriegserfahrung sammelten. Zudem kaufte die Ukraine diverse Waffen ein, etwa panzerknackende Javelin-Systeme. Zudem stellte das Land eine 60.000 Mann starke Landesverteidigung auf, die sogenannte Territorialverteidigung. Unterm Strich sind die Streitkräfte heute auf einem ganz anderen Stand als 2014. Und das bekommen Putins Soldaten derzeit zu spüren.
Auch wenn sich nicht alle Berichte und Videos verifizieren lassen, gibt es mittlerweile eine Reihe von Hinweisen auf beschädigte, eroberte und zerstörte Panzer, Hubschrauber und andere Militärfahrzeuge der russischen Streitkräfte. Die Ukrainer scheinen gezielt den Nachschub anzugreifen, was auch deshalb möglich ist, weil die zweite oder dritte Welle russischer Truppen bislang ausblieb. Putins erste und bisher einzige Angriffswelle kommt in Kiew nicht voran, sie liefert sich in anderen Ortschaften erbitterte Gefechte, erleidet immer wieder Verluste. Das ukrainische Verteidigungsministerium und Berichterstatter sprechen mittlerweile von hunderten zerstörten Fahrzeugen, 200 festgenommenen russischen Soldaten und rund 5400 Toten auf russischer Seite. Ob die Zahlen stimmen, ist unklar.
Die Kämpfe dürften noch blutiger werden
Zudem ist in zahlreichen Videos zu sehen, wie sich unbewaffnete Zivilisten russischen Soldaten entgegenstellen - sie schwenken ukrainische Fahnen, singen ihre Hymne, rufen "Haut ab!", stemmen sich gegen Fahrzeuge. Sie demonstrieren einen Mut und eine Ablehnung der russischen Invasion, mit der Putin nicht gerechnet haben dürfte.
Galeev vermutet, dass die Kämpfe mit fortschreitender Dauer immer blutiger werden, dass deutlich mehr Bomben fallen, wie zur Eröffnung der Invasion. Schaut man auf die Entwicklung seit Beginn der Woche, scheint dies genauso einzutreten. Die Berichte über Raketenangriffe nehmen zu. Es werden nicht mehr nur gezielt militärische Einrichtungen beschossen, wie das russische Militär zu Beginn behauptet, sondern auch Wohngebiete getroffen. Zudem gibt es Berichte, dass die russischen Streitkräfte zu anderen Waffen greifen, etwa zu Vakuumbomben oder zu Streumunition.
Trotz dieser Eskalation geht Galeev davon aus, dass Putin, selbst wenn ihm militärisch nicht beizukommen sein wird, am Ende in jedem Fall verliert. Weil er Fehler bei der Planung und Durchführung seiner "Spezialoperation" gemacht hat und weil er die ukrainische Widerstandsfähigkeit - sowohl des Militärs als auch der Zivilbevölkerung - unterschätzte.
Quelle: ntv.de