Scholz' Kiew-Reise bei Illner Melnyk: "Deutschland hat das Eis gebrochen"
17.06.2022, 04:36 Uhr Artikel anhören
Melnyk hofft, dass Scholz in Kiew "ein Gefühl für die Dringlichkeit der Hilfe" bekommen hat.
(Foto: IMAGO/Christian Spicker)
Bundeskanzler Scholz ist in die Ukraine gereist - und wie versprochen nicht mit leeren Händen. Vor allem seine Ankündigung, sich für einen EU-Beitritt der Ukraine einzusetzen, kommt bei den Gästen von Maybrit Illner gut an. Selbst Botschafter Melnyk verzichtet auf die sonst üblichen scharfen Worte.
Am Abend des Tages, an dem Bundeskanzler Olaf Scholz nach Kiew gereist ist, sitzt auch der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk bei Maybrit Illner. Er, der sonst keine Provokation scheut, zeigt sich heute von einer ruhigen Seite. Während der Sendung entschuldigt er sich gar für eine Bemerkung, die Anfang der Woche für Unmut bei Politikern und vielen Freiwilligen in Deutschland gesorgt hatte, die ukrainische Flüchtlinge unterstützen.
Die Menschen aus der Ukraine würden sich in Deutschland unwohl fühlen, war Melnyk von mehreren Medien zitiert worden. "Das habe ich nicht so gemeint", sagt er bei Illner im ZDF. "Wir wissen, dass den ukrainischen Menschen in Deutschland geholfen wird. Das schätzen wir, und dafür sind wir auch sehr dankbar." Aber viele Ukrainer seien wegen Diskussionen über Waffenlieferungen verunsichert. Sie hätten den Eindruck, dass sich immer mehr Menschen in Deutschland nicht mehr sicher seien, ob die Lieferungen sich überhaupt noch lohnen würden. "Manche Menschen aus der Ukraine haben das Gefühl, dass das Land, das sie verlassen mussten, womöglich im Stich gelassen wird. Es gibt viele Kritikpunkte, die man auch ansprechen muss. Aber ich möchte heute sagen, dass wir die Hilfe schätzen, die von der Bundesregierung und den Kommunen kommt und von den vielen tausend Ehrenamtlichen. Und wir hoffen, dass die Hilfsbereitschaft der Deutschen anhält."
"Erwartungen zum Teil erfüllt"
Der Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz sei wichtig für die Ukraine gewesen, sagt Melnyk. Er hoffe, dass dies umgekehrt auch für den Kanzler gelte, der sich ein Bild machen konnte, wie verzweifelt die Lage in der Ukraine sei. "Darum hoffen wir, dass der Kanzler auch ein Gefühl für die Dringlichkeit der Hilfe bekommen hat und dafür, was die Ukraine sich aus Deutschland wünscht." Die Erwartungen der Ukrainer seien zum Teil erfüllt worden. Besonders was den Status seines Landes als EU-Beitrittskandidat betreffe, gebe es Hoffnung.
Die EU-Kommission will an diesem Freitag ihre Empfehlung abgeben, ob die Ukraine den erhofften Status als Beitrittskandidatin bekommt. Danach müssen die einzelnen EU-Länder zustimmen. Nur wenn das Ergebnis einstimmig ist, erhält die Ukraine den Status endgültig. Melnyk weiß: "Da sind wir noch nicht über den Berg."
Scholz war gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, dem italienischen Regierungschef Mario Draghi und dem rumänischen Präsidenten Klaus Iohannis nach Kiew gereist. "Das war der richtige Zeitpunkt", sagt der SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner bei Maybrit Illner. Es habe warme Worte der Freundschaft gegeben, und es sei ein starkes europäisches Signal, wenn vier Präsidenten deutlich machten, dass es im Ukrainekrieg eine gemeinsame europäische Haltung gebe.
"Es war ein guter Tag", bilanziert die Journalistin Katja Gloger, die für den "Stern" jahrelang aus Moskau und Washington berichtet hat. "Auch wenn es noch lange dauern wird: Die Ukraine hat jetzt eine europäische Perspektive und damit eine ökonomische und politische Zukunftsperspektive", sagt sie. Das könne der russische Präsident Wladimir Putin nicht anders interpretieren als eine große politische Niederlage.
Auch CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter lobt Scholz für seinen Besuch. Als Oppositionspolitiker muss er natürlich auch kritisieren. So habe der französische Präsident Macron betont, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen und schnelle Waffenlieferungen versprochen, Deutschland sei dagegen ein Land, das sehr viel ankündige und sehr viel zu spät mache. "Wir könnten Waffen liefern und tun das immer noch nicht", klagt Kiesewetter. Scholz habe während einer Pressekonferenz in Kiew gesagt, die Ukraine müsse leben. Aber jetzt müsse das Land überleben. Darum müsse der Westen die Ukraine militärisch dahin bringen, dass sie über ein Ende des Krieges und einen Frieden verhandeln könne. "Da wünschte ich mir vom Kanzler deutlichere Worte im Hinblick auf Waffenunterstützung."
"Wir lernen schnell"
Melnyk wiederholt seine Forderung nach modernen Waffen für die ukrainische Armee, erkennt aber auch an, dass sich in dieser Hinsicht in Deutschland etwas bewegt. Er sagt: "Wir brauchen diese Waffen. Die Menschen müssen daran ausgebildet werden. Aber wir lernen schnell, wenn nötig auch mit YouTube-Videos. Wir haben die Panzerhaubitzen 2000, die hoffentlich nächste Woche kommen. Die Ausbildung daran ist abgeschlossen." Bei den Gepard-Panzern beginne dieser Prozess gerade. Nun habe Scholz die Lieferung des Luftverteidigungssystems IRIS-T SLM versprochen, mit dem die ukrainische Armee Großstädte wie Kiew oder Charkiw schützen könne. "Deutschland hat das Eis gebrochen", sagt Melnyk - ein Satz, den man gerade von ihm eher nicht erwartet hätte.
"Russland schafft jeden Tag Fakten"
Das IRIS-System kann erst in einem halben Jahr geliefert werden. Das weiß auch Melnyk. Doch er geht davon aus, dass der Krieg nicht so bald zu Ende sein wird.
Das glaubt auch Stern-Journalistin Katja Gloger. Russlands Präsident Putin führe einen Zermürbungskrieg, und er schaffe jeden Tag Fakten, sagt sie. Im Donbass und im Süden der Ukraine verzeichne er Geländegewinne, die er nicht nur militärisch, sondern auch politisch zu konsolidieren versuche. Das mache die politischen Spielräume für Friedensverhandlungen sehr eng. "Putin wird im Lauf der Zeit alles tun, um auch uns an unseren schwächsten Stellen zu treffen", sagt Gloger. "Umso wichtiger ist Einigkeit - und das Signal, dass es mit Putin und mit diesem Russland keine Deals geben wird", warnt die Journalistin.
Quelle: ntv.de