Freihandel von EU und Mercosur Mileis Gepolter entfacht Angst vor Scheitern auf letzten Metern
22.11.2023, 15:54 Uhr Artikel anhören
Um keine harten Worte verlegen: Javier Milei
(Foto: AP)
Argentiniens kommender Präsident Milei fluchte im Wahlkampf über China, Brasilien und das südamerikanische Wirtschaftsbündnis Mercosur. Mit dem will die EU so schnell wie möglich ihr Freihandelsabkommen abschließen. Mileis Amtsantritt könnte dafür Folgen haben.
Ein Geschäftspartner sollte verlässlich sein. Javier Milei, kommender Präsident Argentiniens, erfüllt diese Voraussetzung angesichts seines Auftretens und der geringen Regierungserfahrung womöglich nur bedingt. Doch mit dem Libertären und dessen neu zusammengewürfelter Mannschaft müssen sich Deutschland und die Europäische Union ab seinem Amtsantritt am 10. Dezember auch offiziell auseinandersetzen. Vor allem, falls sie das ersehnte Freihandelsabkommen mit dem südamerikanischen Wirtschaftsraum Mercosur endlich in Kraft setzen wollen - und die letzten Verhandlungen nicht in den nächsten zwei Wochen abgeschlossen werden.
Aus Sicht der deutschen Industrie wäre es ein Tiefschlag, sollten die derzeit intensiven Gespräche auf den letzten Metern noch scheitern. "Das EU-Mercosur-Handelsabkommen ist für die deutsche Wirtschaft von großer Bedeutung", sagte die Außenwirtschaftsexpertin des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Melanie Vogelbach. Die EU müsse deshalb Druck auf den Abschluss des Abkommens machen.
12.500 deutsche Unternehmen exportieren in die Mercosur-Staaten. Die Ausfuhren beliefen sich im Jahr 2022 auf 16 Milliarden Euro. Allein nach Brasilien nahmen die Exporte im vergangenen Jahr um 2,5 Milliarden Euro zu. Schon 2019, als in Argentinien noch Ex-Präsident Mauricio Macri regierte, war eine erste Version des historischen Abkommens unterzeichnet worden. Doch insbesondere von den Europäern wuchsen danach die Zweifel. Mittlerweile wird um eine Zusatzvereinbarung gerungen. Bislang waren die Stolpersteine zusätzliche Forderungen nach Umweltauflagen aus Europa sowie Einwände europäischer Bauern - und in Südamerika Angst um die eigene Industrie.

Viehhaltung und Landwirtschaft sind ein Treiber der Abholzung des Amazonas-Regenwaldes.
(Foto: REUTERS)
Laut EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will Brüssel die Verhandlungen von Zusatzvereinbarungen noch 2023 abschließen. Auch Brasilien dringt auf das Abkommen. Die Verhandlungsthemen im November waren laut argentinischen Medien der Waldschutz, Ausfuhrzölle, Elektroautos - Argentinien und Brasilien wollen ihre Produktionsstandorte schützen -, sowie Regeln für Auftragsausschreibungen des öffentlichen Sektors.
Radikale Ideen
Milei hatte im Wahlkampf und den Jahren davor bei seinen Fernsehauftritten eine ganze Batterie radikaler Ideen abgefeuert, von denen manche das südamerikanische Land und seine Bevölkerung schon einmal in den Abgrund rissen. Zudem hat er sich immer wieder als brüllender Ideologe präsentiert. Sein Feindbild ist eindeutig: "Zurdos de mierda!", also "Scheißlinke", Sozialisten, Marxisten, Kommunisten - und ohnehin "der Staat" insgesamt. Mehrmals sagte er, die Privatwirtschaft werde zwar unter ihm machen können, was sie wolle, aber Argentinien solle keine Geschäfte mit "Kommunisten" wie China, Kuba oder Venezuela eingehen.
Der Libertäre drohte im Wahlkampf sogar damit, den Mercosur mit seinen weiteren Mitgliedsländern Brasilien, Paraguay und Uruguay zu verlassen. So weit wird es wohl nicht kommen, aber mit Brasiliens Präsident Lula da Silva war der künftige Staatschef schon auf Konfrontationskurs gegangen. Er schimpfte den sozial orientierten Staatschef des Nachbarlandes einen "Dieb" und "wütenden Kommunisten". Lula kündigte nun an, deshalb nicht zu Mileis Vereidigung zu kommen.
Argentinien und Brasilien sind die beiden größten Volkswirtschaften des Kontinents, das Herz des Mercosur und unterhalten enge Wirtschaftsbeziehungen. Sie müssten sich auch unter Milei weiter auf höchster Ebene miteinander abstimmen, wenn es um den Mercosur geht. Später sagte Lula, er wolle weiter mit dem wichtigen Partner zusammenarbeiten, "um Probleme zu lösen". Jeder müsse eben seine Interessen verteidigen: "Er muss nicht mein Freund sein." Lula hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er beim Nachbarn lieber den unterlegenen peronistischen Kandidaten Sergio Massa als neuen Staatschef gesehen hätte. Teile seines Wahlkampfteams, mit dem er gegen den Rechtspopulisten Jair Bolsonaro gewonnen hatte, unterstützten Massa bei seiner Kampagne. Bolsonaro kündigte an, zu Mileis Vereidigung kommen zu wollen.
Der kommende Staatschef hat enorme innenpolitische Probleme vor sich: Die Zentralbankreserven sind leer, der argentinische Peso verliert rapide an Wert, die Armutsrate liegt bei 40 Prozent. Die Handelsbilanz ist zugleich negativ - Argentinien muss also im Idealfall schnell seine Exporte steigern und mehr im Land produzieren, statt zu importieren. Wichtigster Außenhandelspartner ist Brasilien, es folgen China und die USA. Die meisten Einfuhren kommen von der asiatischen Wirtschaftsmacht.
Geopolitischer Schlüssel
Südamerika gilt bei den Bemühungen Europas, weniger wirtschaftlich abhängig von China zu werden, als wichtiger Baustein. Für die EU ist eine engere Partnerschaft mit dem Kontinent seit der russischen Invasion in der Ukraine von enormer geopolitischer Bedeutung. Es geht neben neuen Absatzmärkten insbesondere um Zugang zu Lithium und anderen wichtigen Rohstoffen aus demokratischen Partnerländern.
Angesichts der historischen Umwälzungen in Argentiniens politischer Landschaft ist ein Abschluss jedoch nicht mehr sicher. Milei beschrieb das Abkommen mit der EU im Wahlkampf als "schlechte Zollunion, die den Handel umlenkt und die Mitgliedsländer (des Mercosur) benachteiligt". Der Libertäre hat sich mit Relativierern der Verbrechen gegen die Menschlichkeit der vergangenen Militärdiktatur verbündet, und wird deshalb von Kritikern als Teil der globalen Neuen Rechten gesehen. Seine Vizekandidatin Victoria Villarruel, Apologetin der Diktatur, deren Opferzahl offiziell auf 30.000 Tote und Verschwundene beziffert ist, wird als kommende Sicherheitsministerin gehandelt.
Dazu kommt, dass Brasilien aller Voraussicht nach als letztes fehlendes Mitgliedsland des Mercosur dem Beitritt Boliviens zum Wirtschaftsbündnis zustimmen wird. Es könnte weitere Eigeninteressen in Verhandlungen einbringen. Auch in Bolivien lagern riesige Lithiummengen.
Ideologisches Interesse
Man werbe für einen Abschluss und sei optimistisch, sagte Steffen Hebestreit, Sprecher der Bundesregierung. Die Gespräche seien weit fortgeschritten, gab die verantwortliche brasilianische Staatssekretärin Anfang November Einblick: "Die Idee ist, (die Einigung) im Dezember beim Treffen in Rio de Janeiro anzukündigen." Am 7. Dezember, also drei Tage vor Mileis Amtsantritt in Buenos Aires, kommen in der brasilianischen Metropole die Mercosur-Länder zum Gipfel zusammen. Sollte dort eine unterschriebene Einigung präsentiert werden, müssten danach die nationalen Parlamente der EU- und Mercosur-Staaten das Abkommen ratifizieren.
Falls es mit dem 7. Dezember nichts wird, müssen sich die EU und Brasilien in Zukunft mit Milei auseinandersetzen. Dessen radikale Vorstellung des freien Marktes und ablehnende Haltung gegenüber China könnte aber auch zum Vorteil für die EU werden. Der Libertäre will den Staat schrumpfen, sämtliche Ausfuhrzölle, die meisten Steuern und den Peso abschaffen, sowie ausländische Währungen erlauben. Dafür braucht der neue Präsident internationale Verbündete, die möglichst in sein Weltbild passen. Irgendwo müssen die argentinischen Rohstoffe und Waren ja hin - und das neue Geld herkommen. Warum nicht aus der EU?
Quelle: ntv.de