Gewissheit über Putins Ziele Experte: "Wir brauchen den Dialog mit Russland"
20.07.2022, 10:35 Uhr (aktualisiert)
Russlands Verteidigungsminister Schoigu berichtet Anfang Juli an Präsident Putin. Verhandlungen mit dem Kreml müssten jedoch nicht auf oberster Ebene und offiziell starten, sondern vertraulich, in sogenannten Back Channels, sagt Experte Richter.
(Foto: picture alliance/dpa/Pool Sputnik Kremlin/AP)
Die nächsten Kriegs-Monate werden viele Opfer fordern und keiner Seite entscheidende Vorteile bringen, fürchtet der Militärexperte und Oberst a.D. Wolfgang Richter. Er plädiert im Gespräch mit ntv.de für den Dialog mit Russland und erklärt, über welche Kanäle man diesen führen kann.
ntv.de: Dieser Krieg muss - wie die allermeisten Kriege zwischen Staaten - am Ende über Verhandlungen beendet werden, darüber herrscht wohl weitgehend Konsens. Wie sehen Sie Kiews Chancen, Russland in den kommenden Monaten mit mehr westlichen Waffen so hart zu treffen, dass es sich auf ernsthafte Gespräche einlässt?
Wolfgang Richter: Ich fürchte, neben Reservebrigaden und Millionen Reservisten können die Russen auch beim Material noch auf sehr große Bestände zurückgreifen. Sie können immer noch mehr nachlegen als der Westen liefert. Und auch, wenn das älteres, weniger modernes Material sein wird, entscheidet auf dem Gefechtsfeld irgendwann die pure Masse.

Der Militärexperte Wolfgang Richter ist Oberst a.D. der Bundeswehr und forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik unter anderem zum NATO-Russland-Verhältnis.
(Foto: Stiftung Wissenschaft und Politik)
Gerade hat die Ukraine im Süden eine Offensive gestartet, um vom Angreifer besetzte Gebiete zurückzuerobern. Mit HIMARS aus den USA zerstören die Truppen weit entfernte russische Waffendepots.
Ja, doch dadurch können sie noch keinen entscheidenden Vorteil erzielen, denn die Russen nutzen Raketen dieser Reichweite schon seit Wochen und haben bereits etliche Depots und Produktionsstätten der Ukrainer zerstört. Ich fürchte, Kiews Armee kann maximal zu den russischen Fähigkeiten aufschließen.
Zu Beginn des Krieges hat man nicht einmal diese Hoffnung gehabt. Dann kam es anders.
Die Russen hatten anfangs vor allem deshalb Probleme, weil sie sich auf einen so homogenen und hartnäckigen Widerstand der ukrainischen Armee nicht eingestellt hatten. Der russische Angriff auf Kiew war taktisch und logistisch schlecht vorbereitet. Diese Fehler hat Russland aber nun korrigiert und fokussiert sich auf das, was seine Armee gut kann: Sie konzentriert sehr viel Artillerie auf schmale Räume, um dort durch lokale Feuerüberlegenheit Durchbrüche zu erzielen.
Inzwischen mehren sich die Stimmen, die einen Abnutzungskrieg voraussagen, der noch Jahre dauern wird.
Sehr wahrscheinlich wird irgendwann ein Erschöpfungspunkt kommen, vermutlich zuerst bei den ukrainischen Truppen, aber noch lässt sich das nicht sicher vorhersagen. Wenn wir aber damit rechnen müssen, dass dieser Punkt kommen wird, ohne dass sich das große operative Bild wesentlich ändert, dann sollte man sich möglichst bald auf den nötigen Dialog besinnen, der einem Waffenstillstand vorangeht. Andernfalls wachsen die Verluste ins Unermessliche, ohne dass sich die Lage entscheidend ändert.
Russlands Außenminister Lawrow hat beim G20-Treffen erst selbst geredet und, noch bevor jemand hätte antworten können, den Saal verlassen. Das deutet nicht gerade auf Gesprächsbereitschaft hin.
Das stimmt, allerdings gab es im Vorfeld auch keinerlei Versuch zu sagen, wir reden mal miteinander. Ich erinnere daran, dass immer, wenn Kanzler Scholz oder Frankreichs Präsident Macron zum Hörer greifen, um mit Putin zu sprechen, vor allem osteuropäische Staaten sofort protestieren und von Verrat sprechen. Solche Fundamental-Positionen sind nicht sinnvoll, denn ein Waffenstillstand, der diesen Krieg beendet, muss vorher verhandelt werden.
Wenn aus dem Westen Signale der Gesprächsbereitschaft kämen, würde der Kreml das in den Staatsmedien vermutlich als Erfolg ausschlachten. Muss man das in Kauf nehmen oder ließe es sich umschiffen?
Es macht auf keinen Fall Sinn, jetzt eine großangelegte, öffentlichkeitswirksame Gesprächsinitiative vom Zaun zu brechen, die nur eine neue Propagandaschlacht auslöst, ohne den Krieg beenden zu können. Substantielle Verhandlungen beginnen nicht durch öffentliche Rhetorik auf der oberen Ebene, sondern auf kleiner Flamme. Die fangen in vertraulichen Gesprächen an, in sogenannten Back Channels.
Wer spricht da miteinander?
Das können hohe Beamte oder Diplomaten sein, wie das offenbar der Fall ist, wenn es um Gefangenenaustausche und Getreidelieferungen geht. Es können aber auch Gespräche stattfinden zwischen denjenigen, die nicht mehr offiziell in Ämtern sind, die aber noch miteinander reden und auch reden dürfen: ehemalige Generalstabsoffiziere, Ex-Diplomaten, Wissenschaftler.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Back Channels sind etwa die trilaterale Deep Cuts Commission und der Track II-Dialog zwischen Angehörigen der Russischen Akademie der Wissenschaften und Vertretern amerikanischer und europäischer Institute. So kann man zumindest Kanäle offenhalten bis zu dem Moment, an dem die Einsicht reift, dass man miteinander über die Kriegsbeendigung auch formell verhandeln muss.
Ist der Westen in der Position, einen Dialog zu eröffnen?
Für territoriale Fragen ist auf jeden Fall in erster Linie Kiew zuständig, auch wenn Frankreich und Deutschland eine gewisse Mitverantwortung für die Umsetzung der Minsk-Abkommen über den Status des Donbass tragen. Wenn es aber etwa um die Frage eines möglichen NATO-Beitritts der Ukraine geht, ist das eine Konsens-Entscheidung innerhalb des Bündnisses, die nicht in Kiew getroffen wird. Vor allem muss es dem Westen darum gehen, eine Eskalation zu vermeiden. Das gilt auch für die Eindämmung der Risiken des "Eisernen Gürtels", den die NATO künftig vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer errichten wird. Es gilt, militärische Zwischenfälle zu vermeiden oder ihre Eskalation zu verhindern.
Wie wichtig ist das NATO-Thema für Russland?
Das müsste man als Erstes in Gesprächen ausloten: Worum geht es den Russen wirklich? Da haben wir drei verschiedene Narrative gehört: Die Frage der Ausdehnung der NATO nach Osten in Richtung der russischen Grenzen verfolgt uns schon seit Jahren. Die Rüstungskontrollabkommen früherer Jahre, die potenzielle Stationierungsräume beschränkt haben, sind leider erodiert. Nun müssen wir sehen, ob wir an diesen Stellen etwas tun können.
Das zweite Narrativ ist ein neo-imperiales und damit nicht verhandelbar: Wenn Putin, und zwar schon seit dem letzten Sommer, leugnet, dass es eine ukrainische Nation und Identität gibt, und behauptet, es handle sich um russische Erde, die man zurückgewinnen muss, dann will er offenbar das Zarenreich wiederherstellen. Ein solcher revisionistischer Ansatz ist mit den Grundsätzen des Völkerrechts und der vereinbarten europäischen Sicherheitsordnung nicht vereinbar.
Das dritte Narrativ, das jetzt auch wieder im Vordergrund steht, ist der Schutz der Russland-affinen Bevölkerung im Donbass. Das ist ein eher begrenztes Ziel, und mit Blick darauf müsste man die Minsk-Abkommen nochmal anschauen und womöglich einen tragbaren Kompromiss finden.
Was passiert, wenn sich in solchen Gesprächen herausstellt, was einige Experten vermuten: dass das neo-imperiale Motiv zentral für den Angriffskrieg ist?
Sollte es so sein, dann wären Verhandlungen derzeit in der Tat aussichtslos. Mir scheint aber, dass Putin eher Taktiker als Stratege ist und auszuloten versucht, was de facto erreichbar ist. Die russischen Vorschläge vom Dezember 2021 zielten auf die Frage der NATO-Erweiterung und der Begrenzung von Truppenstationierungen ab. Mehr Gewissheit werden wir nur bekommen, wenn wir in einen substantiellen Dialog eintreten, statt Vermutungen anzustellen. Offenbar glauben beide Seiten noch daran, entscheidende Vorteile auf dem Gefechtsfeld erzielen zu können, die durch Verhandlungen nicht gesichert werden könnten. Das dürfte sich ändern, je mehr der Abnutzungskrieg auf einen Erschöpfungszustand hinsteuert.
Einen Monat nach Beginn des russischen Angriffs hatte der ukrainische Präsident Selenskyj eine Art Verhandlungspaket vorgestellt. Dann wurden die Verbrechen von Butscha offenbar.
Die Aufklärung und Bewertung der Vorgänge in Butscha und die Ahndung von Kriegsverbrechen sollten einer unabhängigen internationalen Untersuchung und Justiz überlassen bleiben. Dass Selenskyjs Paket vom März nicht weiterverfolgt worden ist, dürfte eher auf die Euphorie nach den ersten militärischen Erfolgen der ukrainischen Armee vor Kiew zurückzuführen sein.
Wie bewerten Sie die Vorschläge, die er damals machte?
Das Paket enthielt drei Elemente: Das erste betraf den Verzicht auf den NATO-Beitritt, das zweite war der Vorschlag, die Lösung der Krim-Frage um 15 Jahre zu verschieben, und das dritte war das Angebot, einen Sonderstatus für den Donbass direkt zwischen den Präsidenten zu verhandeln. Diese Vorschläge hat Kiew zwischenzeitlich durch Maximalpositionen ersetzt, wie etwa die komplette Rückeroberung aller Gebiete, einschließlich der Krim und des ganzen Donbass. Auch die russische Führung bedient sich wieder einer revisionistischen Rhetorik. Ich denke aber, dass man zu den Vorschlägen vom März perspektivisch zurückkommen muss. Sie lagen auf dem Tisch, sie scheinen immer noch relevant zu sein, und sie sind ein Ansatzpunkt, um ins Gespräch zu kommen.
Mit Wolfgang Richter sprach Frauke Niemeyer
(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 17. Juli 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de