Ohne Waffen kein Krieg? "Die Russen wollen die ganze Ukraine, sie wollen uns vernichten"
11.07.2022, 19:05 Uhr
Ein Feuerwehrmann löscht das Feuer in einem zerstörten Haus nach einem russischen Angriff auf ein Wohnviertel in Charkiw.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Beim aktuellen Stand wären Waffenstillstandsverhandlungen für Russland "nur eine Pause, um sich für die Fortsetzung des Kriegs vorzubereiten", sagt der ukrainische Philosoph Vakhtang Kebuladze im Interview mit ntv.de. Das von einem deutschen Kollegen vorgebrachte Argument, die Ukraine verliere den Krieg ja ohnehin, deshalb sollte man ihr keine Waffen liefern, nennt er einen böswilligen Zirkelschluss.
ntv.de: Wir haben bereits im März gesprochen, damals sagten Sie, es gehe Ihnen gut, auch wenn die Situation schrecklich sei. Wie geht es Ihnen heute, nach bald fünf Monaten Krieg?

Vakhtang Kebuladze ist ein ukrainischer Philosoph, Publizist und Übersetzer. Er lehrt Philosophie an der Taras-Schewtschenko-Universität Kyjiw und an der Nationalen Universität "Kyjiw-Mohyla Akademie".
(Foto: Pen Ukraine)
Vakhtang Kebuladze: Meine Antwort ist noch immer dieselbe: Es ist Krieg, aber ich bin gesund und in Sicherheit, soweit es im Moment in der Ukraine möglich ist, in Sicherheit zu sein. Meine Familie ist im Ausland, ich bin in unserer Wohnung in Kyjiw und arbeite.
Normalerweise lehren Sie an der Universität. Geht der Hochschulbetrieb weiter?
Wegen der Pandemie hatten wir schon lange vor dem Krieg auf Distanzlernen umgestellt. Ich bin nur ab und zu an der Uni. Der Unterricht findet online statt.
Die ukrainische First Lady, Olena Zelenska, sorgt sich um die psychische Stabilität der ukrainischen Gesellschaft. Können Sie sagen, wie der Krieg Sie verändert hat?
Der Krieg ist immer eine schreckliche Erfahrung, besonders für Pazifisten, wie auch ich eigentlich einer bin. Ich bin und war immer gegen Krieg. Aber mein Wunsch, in Frieden zu leben, ist nicht genug, wenn ein Feind der Menschheit uns angreift. Die ukrainische Gesellschaft versteht das. Aber um uns und die ganze Welt gegen das Böse verteidigen zu können, brauchen wir Unterstützung.
Der Krieg ist schon seit einiger Zeit ein Stellungskrieg, was bedeutet, dass ukrainische Soldaten und Zivilisten sterben, ohne dass es größere Erfolge für die Ukraine gibt. Wie beeinflusst das die Stimmung in der Ukraine?
Ich würde nicht sagen, dass es keine Erfolge für die Ukraine gibt. Am Anfang des Krieges waren die russischen Truppen in der Nähe von Kyjiw und haben die Hauptstadt unmittelbar bedroht - jetzt nicht mehr. Der größte Teil des Territoriums der Ukraine ist frei, nur der Osten und der Südosten sind besetzt. Wir hoffen sehr, den Süden bald wieder zu befreien und sie im Osten wenigstens zu stoppen. Die Situation ist aber weiter sehr gefährlich. Gerade heute gab es drei Tote bei einem Angriff auf Charkiw, und auch in Kyjiw gibt es immer wieder Luftalarm, auch wenn es hier längst nicht so schlimm ist wie im Osten des Landes.
Eine Gruppe deutscher Intellektueller hat Ende Juni in einem offenen Brief Verhandlungen über einen Waffenstillstand gefordert. Wie kommt so etwas bei Ihnen an?
Waffenstillstandsverhandlungen wären für Russland nur eine Pause, um sich für die Fortsetzung des Kriegs vorzubereiten. Friedensverhandlungen mit Russland sind nur von einer Position der Stärke möglich, denn Russland will keinen Frieden. Es gab noch einen anderen offenen Brief, der mir sehr viel besser gefallen hat: den, der von Ralf Fücks und Marieluise Beck initiiert wurde. Die beiden kennen die Ukraine, sie waren mehrfach hier, auch nach Beginn des Kriegs - in Kyjiw, in Odessa und sogar in Charkiw. Sie kennen die Situation aus eigener Anschauung. In ihrem Brief heißt es: "Wer einen Verhandlungsfrieden will, der nicht auf die Unterwerfung der Ukraine unter die russischen Forderungen hinausläuft, muss ihre Verteidigungsfähigkeit stärken und die Kriegsfähigkeit Russlands maximal schwächen." Ralf Fücks und Marieluise Beck verstehen, dass es für uns um die Existenz geht.
Der deutsche Philosoph Richard David Precht, der in der Ukraine vermutlich unbekannt ist, sagt: "Wenn die Ukraine jetzt riesige Erfolge erzielen und die Russen zurückschlagen würde, dann gäbe es ein gutes Argument für Waffenlieferungen. Wenn man aber vermutet, dass die Ukraine diesen Krieg ohnehin verliert, dann gibt es kein so gutes Argument mehr dafür." Sie sind auch Philosoph, was entgegnen Sie?
Das ist ein böswilliger Zirkelschluss. Richtig ist: Die Ukraine verliert, wenn es keine Waffenlieferungen gibt. Wir brauchen Waffen, um die Russen aufzuhalten. Sie haben nach der Stimmung in der Ukraine gefragt. Ich würde sagen: Wir wollen frei in unserem Land leben. Es gibt keinen Mangel an Entschlossenheit, es gibt einen Mangel an Waffen.
Precht sagt auch, Putin sehe sich als "Befreier" der Ostukraine und würde deshalb "sehr gerne verhindern, dass der Krieg in den Städten stattfindet".
Putin sieht sich als Befreier der Ostukraine? Da liegt ein Missverständnis vor: Putin befreit die Ukraine nicht, er befreit sie von Menschen.
Um ein letztes Precht-Argument zu bemühen: Er sagt, in der Vergangenheit seien Hunderttausende für die Frage gestorben, wo die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich verläuft. "Heute ist es die unwichtigste Frage der Welt. Nichts wäre anders, wenn Elsass-Lothringen zu Deutschland gehört." Das werde möglicherweise auch die Betrachtungsweise der Ukrainer in 50 Jahren sein. Können Sie sich das vorstellen?
Die Russen wollen nicht nur die östliche Ukraine okkupieren, sie wollen die ganze Ukraine. Sie wollen unseren Staat, unsere Kultur, unsere Sprache und das ganze ukrainische Volk vernichten. Es geht in diesem Krieg nicht um die Grenze zwischen der Ukraine und Russland. Es geht um die Grenze zwischen Zivilisation und dem Schatten der Zivilisation, zwischen der freien Welt und der Todeswelt des russischen Reichs.
Im Moment ist die drohende Gasknappheit in Deutschland ein größeres Thema als die Waffenlieferungen. Befürchten Sie, dass der Westen kriegsmüde wird und die Unterstützung erlahmt?
Die Deutschen sollten verstehen, dass es in diesem Krieg nicht um Gas oder Öl geht, sondern um die Existenz unserer gemeinsamen Zivilisation. Die Russen töten uns jeden Tag und jede Nacht. Sie können sicher sein, dass sie nicht aufhören werden, wenn sie die Ukraine erobert haben.
Mit Vakhtang Kebuladze sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de