Mittelstand von Ampel enttäuscht "Es wird Übersterblichkeit bei den Unternehmen geben"
08.09.2022, 11:54 Uhr (aktualisiert)
Markus Jerger ist Vorsitzender des Bundesverbandes Der Mittelstand (BVMW).
(Foto: picture alliance/dpa)
Der Chef des Mittelstandverbands BVMW sieht in den von der Ampel angekündigten Entlastungen keine Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen. "Das ist kein Entlastungspaket, das ist ein Umverteilungspaket", sagt Markus Jerger im Interview mit ntv.de. Das Programm für energieintensive Betriebe etwa helfe so gut, "als würde man versuchen, einen Verdurstenden mit einem einzigen Tropfen am Leben zu halten". Jerger erwartet eine Zunahme der Insolvenzen.
ntv.de: Bundeskanzler Scholz hat gesagt, die Bundesregierung werde "niemanden alleine lassen". Fühlt der Mittelstand sich mit dem Entlastungspaket ausreichend unterstützt?
Markus Jerger: Nein. Das ist kein Entlastungspaket, das ist ein Umverteilungspaket. Entlastet und unterstützt werden die Schwachen, und das ist auch gut. Aber für die Wirtschaft ist nichts dabei - allenfalls kleine Krümelchen.
Wie stark machen sich die steigenden Energiepreise für mittelständische Unternehmen bemerkbar?
Je mehr Gas und Strom ein Unternehmen braucht, desto stärker machen sich die Preise natürlich bemerkbar. Da ist zunächst natürlich die gesamte metallverarbeitende Industrie, die Porzellanindustrie, die Glasindustrie, auch die größeren produzierenden Mittelständler. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass von den Energiepreisen auch viele Unternehmen betroffen sind, die ihre Büros mit Gas heizen - das ist eine extreme Belastung, wie ja auch bei den Privathaushalten.
Im Beschluss der Koalition heißt es, die Bundesregierung werde ein Programm für energieintensive Unternehmen auflegen, die die Steigerung ihrer Energiekosten nicht weitergeben können.
Das betrifft 9000 Unternehmen - von dreieinhalb Millionen! Denn das gilt nur für besonders energieintensive Unternehmen, der Gesamtwirtschaft hilft das nicht. Das ist, als würde man versuchen, einen Verdurstenden mit einem einzigen Tropfen am Leben zu halten.
Was ist mit der Verschiebung des höheren CO2-Preises und mit den Liquiditätshilfen, die die Bundesregierung verlängern will?
Wenn die Liquiditätshilfen weiterlaufen, ist das sehr gut und wichtig. Wir können in dieser Zeit bereits beschlossene Entlastungen nicht zurücknehmen. Eine weitere Entlastung ist das aber nicht. Bei der Verschiebung der neuen CO2-Bepreisung um ein Jahr handelt es sich ebenfalls nicht um eine Entlastung, sondern um eine verschobene Belastung - dies Entlastung zu nennen, ist ein Witz!
Grundsätzlich ist bei Liquiditätshilfen die Frage, wie hoch sie sind und wie schnell man rankommt. Bei den Corona-Überbrückungshilfen war das Problem, dass die Unternehmen vier oder fünf Monate warten mussten, bis die Gelder ausbezahlt waren. Dass dies alles so lange dauert, ist übrigens auch bei den Sonderprämien bis 3000 Euro ein Problem, die der Bund von Steuern und Abgaben freistellen will.
Inwiefern?
Angenommen, ein Unternehmer hat zehn Mitarbeiter und will allen eine Sonderprämie von 3000 Euro geben. Dann muss er seinem Unternehmen Liquidität in Höhe von 30.000 Euro entnehmen. Abzugsfähig wird diese Summe aber erst in der nächsten Steuererklärung. Für die vielen kleinen und mittleren Unternehmen, die ohnehin schon unter Druck stehen, ist das keine Hilfe. Es wird viel mehr unmöglich sein, die Sonderprämie auszuzahlen.
Hilft mittelständischen Unternehmen der angekündigte Strompreisdeckel?
Da ist noch zu viel unklar. Unsere Forderung ist, dass die Mehrwertsteuer bei Gas, bei Strom, bei Kraftstoffen drastisch gesenkt wird, denn diese Kosten sind es, die den Mittelstand und die gesamte Wirtschaft belasten. Jetzt soll sie beim Gas von 19 auf 7 Prozent gesenkt werden - das reicht nicht, da die Energiekosten sich in vielen Fällen verdoppelt oder verdreifacht haben.
Was fordern Sie?
Wir brauchen eine breite Entlastung in allen Bereichen. Das beginnt bei den Steuern und endet bei der Entschlackung einer völlig außer Kontrolle geratenen Bürokratie. Wir haben in den Unternehmen jährliche Kosten für den bürokratischen Erfüllungsaufwand von 50 Milliarden Euro. Beim Staat kommen noch mal etwa 40 bis 60 Milliarden hinzu. Und wenn es nur 10 Prozent wären: Da gibt es große Entlastungsmöglichkeiten, die der Wirtschaft, insbesondere den kleinen Unternehmen, wahnsinnig helfen würden. Wenn Unternehmen in der Breite entlastet werden würden, dann könnten wir auch eine Zeitlang die höheren Energiekosten stemmen. Und die Entlastungen müssen schnell kommen. Es ist ähnlich wie bei einer Krankheit: Die richtige Behandlung hilft nicht, wenn sie zu spät kommt. Da muss die Bundesregierung deutlich schneller werden.
Ist die aktuelle Situation mit der Corona-Krise vergleichbar?
Wir behandeln das Thema Energie-Krise zwar ähnlich wie Corona - wir verfolgen Grafiken über Gaslieferungen, Speicherstände und Marktpreise wie damals die Sieben-Tage-Inzidenz und Krankenhausbelegungen. Aber grundsätzlich sind der Energiepreis und die Krise, die sich daraus ergibt, nicht mit Corona vergleichbar. Bei Corona war die große Belastung der Ausfall von Personal und vor allem in Dienstleistungsbetrieben der Verlust von Umsätzen. Im Moment ist es die Liquidität der Unternehmen.
Rechnen Sie mit einer Pleitewelle?
Pleitewelle wäre vielleicht übertrieben, aber es wird eine Art Übersterblichkeit unter den Unternehmen geben, also mehr Insolvenzen als normalerweise, weil viele Unternehmen nicht nur hohe Energiepreise haben, sondern auch hohe Rohstoffbeschaffungskosten, höhere Mindestlöhne und weil Logistik-Kosten im Moment extrem zu Buche schlagen.
Mit Markus Jerger sprach Hubertus Volmer
(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 06. September 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de