Lang will Parteichefin werden "Müssen klarmachen: Grüne sind eine Gerechtigkeitspartei"
16.12.2021, 11:20 Uhr
Ricarda Lang ist stellvertretende Bundesvorsitzende der Grünen.
(Foto: picture alliance / photothek)
Mit dann 28 Jahren will Ricarda Lang eine von zwei neuen Grünen-Vorsitzenden werden. Im ntv.de-Interview spricht Lang über ihre Ziele als Parteichefin, über die neue Rolle der Grünen als Regierungspartei und über den nicht ganz einfachen Prozess der Ministerposten-Vergabe.
ntv.de: Sie waren sehr ergriffen, als Sie als neues Mitglied des Bundestags die Vereidigung der fünf Grünen-Bundesminister verfolgt haben. Wieso?
Ricarda Lang: Da dabei zu sein, war nie für mich vorgezeichnet. Meine Mutter war alleinerziehend und hat im Frauenhaus als Sozialarbeiterin gearbeitet. Den Job hat sie verloren, als ich 18 Jahre alt war, weil dem Frauenhaus die Mittel gestrichen wurden. Ich habe miterlebt, wie sie um alles kämpfen musste, auch um jede einzelne Chance für ihre Tochter. Sie hat mir so viel ermöglicht und ich bin ihr unheimlich dankbar. Für mich ist diese Erfahrung ein Auftrag, dafür zu sorgen, dass Familien wie meine nicht immer um alles kämpfen müssen. Als Bundestagsabgeordnete und - wenn die Delegierten mir die Möglichkeit dazu geben - auch als Parteivorsitzende werde ich mich jeden Tag für gleiche Chancen für alle Kinder einsetzen.
Aus einfachen Verhältnissen in den Bundestag: Diese Geschichte kennt man eher aus anderen Parteien. Ist Ihr Aufstieg bei den Grünen ein Signal nach außen?
Ich sehe das so, ja. Viel zu wenige Menschen bekommen bisher das von uns mit, was mich zu dieser Partei geführt hat: Wir haben uns immer für Gerechtigkeit eingesetzt und sind schon lange programmatisch gut aufgestellt in diesem Bereich. Wir haben die Kindergrundsicherung in die Koalitionsgespräche eingebracht, die die Ampel jetzt umsetzt, und Konzepte für eine moderne Arbeitsmarktpolitik entwickelt. Wir denken den Gerechtigkeitsbegriff über Generationen hinweg, weil wir auch in die Zukunft schauen. Das macht uns aus.
Haben die Grünen noch Nachholbedarf, das stärker nach außen zu vermitteln?
Wir haben uns in den letzten Jahren geöffnet. Wir haben gezeigt, dass wir nicht nur Klimaschutzpartei sind, sondern zum Beispiel auch für Wirtschafts-, Finanz-, und soziale Themen stehen, für die sozial-ökologische Transformation. Ich habe aber im Bundestagswahlkampf gemerkt, dass wir noch Vertrauen aufzubauen haben, insbesondere bei Menschen auf dem Land und bei Menschen, die mehr Angst haben vor dem Monatsende als vor dem Ende des Planeten. Das muss uns in den kommenden Jahren gelingen, aus der Regierung und aus der Partei heraus.
Sie wollen dafür maßgeblich Verantwortung übernehmen und neben Omid Nouripour für den Parteivorsitz kandidieren. Was haben Sie vor?
Wir stehen vor einer riesigen Aufgabe: In der Regierung wollen wir unsere Versprechen von der Kindergrundsicherung bis zum Kohleausstieg umsetzen. Als Partei müssen wir über den Regierungsalltag hinausdenken, am inhaltlichen Profil arbeiten und noch mehr Menschen überzeugen. Ich möchte das, was ich mitbringe, in den Dienst dieser Sache stellen.
Was bringen Sie denn mit?
Ich bin gut darin, über bestehende Gräben hinweg Menschen zusammenzubringen und gemeinsame Lösungen zu erarbeiten. Dabei habe ich klare politische Überzeugungen und bin leidenschaftlich in der Sache. Diese Mischung brauchen wir jetzt: ein klarer Kompass und zugleich kooperativ und begeisternd. Außerdem bin ich bereit, dazuzulernen, das ist in der Politik nicht selbstverständlich.
Sie sind, wenn Sie gewählt werden, 28 Jahre alt und kennen nichts anderes als Politik. Ist das ein Nachteil für diese große Aufgabe?
Es geht doch darum, die richtige Idee zur richtigen Zeit zu haben. Gerade habe ich gute Ideen, wie sich die Partei für die Regierungszeit und darüber hinaus aufstellen kann. Natürlich braucht es Menschen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen. Ich will mich deshalb dafür einsetzen, dass wir vielfältige Perspektiven im Parlament und in der Partei abbilden. Dafür ist aber wichtig: Es gibt nicht den einen richtigen Politiker-Typus wie auch nicht den einen richtigen Vorsitzenden-Typus. Wenn wir so tun, als ob es ihn gäbe, schreckt das viele Menschen ab, politische Verantwortung zu übernehmen.
Tatsächlich sind die Grünen in der Spitze viel homogener als ihr Ruf: sehr weiß, sehr akademisch und eher hetero-normativ. Das wollen Sie ändern?
Wir sind schon sehr gut vorangekommen in den letzten Jahren. Aber wenn es zum Beispiel um Menschen mit Migrationshintergrund geht oder um Menschen, die in einem handwerklichen Beruf arbeiten, dann haben wir noch etwas zu tun. Das will ich nicht schönreden, sondern verändern.
Die Grünen treten in eine neue Phase ein. Sie werden der Basis vermutlich mehr als einmal erklären müssen, warum in der Bundesregierung immer wieder Kompromisse eingegangen werden.
Klar wird es zu unseren Aufgaben gehören, in die Partei und mit unseren Bündnispartnern zu kommunizieren, was in der Regierung warum passiert. Und die Wünsche und Ideen dieser Menschen werden wir wiederum in den Regierungsalltag tragen, genauso wie die Realität der Klimakrise oder anderer gesellschaftlichen Herausforderungen. Sich dabei Ehrlichkeit und Transparenz zu bewahren, sehe ich als Aufgabe der Partei. Punkte, die wir im Koalitionsvertrag nicht durchsetzen konnten, anzusprechen und zu sagen, da müssen wir weiter dran arbeiten, wird eine weitere Aufgabe sein.
Es wird womöglich auch Konflikte zwischen der Partei und ihren Bundesministern geben. Können Sie die mit der Außenministerin Baerbock und Vize-Kanzler Habeck auf Augenhöhe ausfechten?
Ja. Ich habe die letzten Jahre auf Augenhöhe mit Annalena Baerbock und Robert Habeck gearbeitet. Der gegenseitige Respekt hat uns stark gemacht. Alle wissen: Nur wenn wir zwischen Regierung, Bundestagsfraktion und Partei als Team funktionieren, können wir umsetzen, was wir uns vorgenommen haben.
Teilen Sie die These, dass die Grünen von allen beteiligten Parteien am meisten mit ihrer Rolle in der Bundesregierung hadern werden?
Jetzt haben wir zu Recht sehr hohe Ansprüche an uns selbst. Nach 16 Jahren Opposition gibt es eine große Erwartungshaltung, zum Beispiel bei vielen Frauen, für die sich in dieser Zeit sehr wenig getan hat. Zuerst ist da aber eine große Freude, dass wir jetzt endlich unsere Ideen umsetzen können. Das werden vier gute Jahre für die Grünen.
Aber es kommen harte Debatten auf Sie zu. Ich denke da etwa an die im Koalitionsvertrag festgeschriebene Anschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr. Sie wollen die vielen Kompromisse in der Partei vertreten?
Ich kann vertreten, dass die Inhalte des Koalitionsvertrages umgesetzt werden. Die Partei hat mit 86 Prozent für den Koalitionsvertrag gestimmt. Das ist ein klarer Auftrag für unsere Kernanliegen, wie den Ausbau der erneuerbaren Energien. Das ist aber auch ein Auftrag, die Punkte umzusetzen, für die wir auf unsere Partner zugegangen sind.
Bei der Bundestagswahl sind Ihre bisherigen Vorsitzenden deutlich hinter dem Ziel zurückgeblieben, Volks- und Kanzlerpartei zu werden. Was bedeutet dieser Anspruch auch mit Blick auf die vier Landtagswahlen im kommenden Jahr?
Dieser Anspruch war und ist ja kein Selbstzweck. Klimaneutralität mit sozialer Gerechtigkeit und guten Zukunftsperspektiven für die Menschen zu verbinden, was wir mit dem Begriff der sozial-ökologischen Transformation meinen, ist eine Mammutaufgabe. Um das zu gestalten, brauchen wir den breiten Rückhalt der Gesellschaft. Den zu erarbeiten, bleibt unser Ziel - bei den Landtagswahlen und darüber hinaus.
Bei den Landtagswahlen müssen Sie vor allem mehr Zuspruch auf dem Land gewinnen, was Robert Habeck und Annalena Baerbock nicht geglückt ist. Wie kann das gelingen?
Wir haben bei der Bundestagswahl ganz viel erreicht und einiges nicht. Daraus wollen wir jetzt lernen. Die Politik muss davon wegkommen, Stadt und Land gegeneinander auszuspielen, etwa beim Verkehr. Während etwa Münster auf dem Weg zur autofreien Innenstadt ist, geht es in meinem Wahlkreis Backnang-Schwäbisch Gmünd darum, wie man überhaupt eine Wahlfreiheit zwischen Autos und öffentlichem Nahverkehr ermöglichen kann. Dazu kommt auf dem Land die Frage der Daseinsvorsorge, sei es das öffentliche Schwimmbad, das Schulbus-Angebot oder eine nahegelegene, ordentlich ausgestattete Polizeiwache. Wenn die Menschen das Gefühl haben, der Staat zieht sich aus ihrer Region zurück, bröckelt das Vertrauen.
Das Duo Baerbock und Habeck hatte im Wahlkampf einige Beziehungstests durchzustehen. Wie können Herr Nouripur und Sie besser zusammenarbeiten?
Omid Nouripour und ich mögen uns. Das klingt banal, ist in der Politik aber sehr viel wert. Das hat auch Annalena und Robert stark gemacht. Wir sind beide sehr ehrliche Menschen. Unser Stil könnte vertraulich und kooperativ sein, immer mit dem im Mittelpunkt, was wir erreichen wollen. Robert und Annalena haben ein starkes Fundament gebaut. Darauf gilt es im Team aufzubauen.
Mit Ihnen beiden kehrt auch die klassische Aufteilung zurück, wonach eine Linke und ein Realo die Flügel der Partei an der Spitze vertreten. Ist das Projekt, die Flügel zu begraben, beendet?
Im Falle unserer Wahl werden wir beide - da erlaube ich mir, auch für Omid zu sprechen - Vorsitzende für die ganze Partei mit ihren 125.000 Mitgliedern sein und nicht nur für einzelne Teile davon.
Der Flügelproporz hatte auch eine Rolle im Streit um die Bundesminister-Besetzung gespielt. Da ging es teilweise rau zu. War das der Moment, in dem die Grünen sich und der Öffentlichkeit eingestehen mussten, auch nur eine Partei mit ehrgeizigen Profipolitikern zu sein?
Das Problem war, dass wir mehr gute Profipolitikerinnen und -politiker hatten, als Posten zu vergeben. Dass persönliche Ambitionen eine gewisse Rolle spielen, ist in der Politik normal. Es wäre unehrlich, das abzustreiten. Was politisch wichtig ist, also wie wir das Leben der Menschen verbessern können, muss immer über dem persönlichen Interesse stehen. Und das ist bei uns der Fall.
Müssen Sie und Herr Nouripour zurückgebliebene Wunden heilen?
Die Situation war alles andere als leicht und es gab auch Enttäuschungen. Wichtig ist aber, dass man sich weiter respektvoll in die Augen schauen kann. Das können wir alle. Denn jetzt ist es unser gemeinsames Ziel, die Zukunft zu gestalten.
Wie erklären Sie, dass Cem Oezdemir Agrarminister geworden ist, obwohl er das Thema nie bearbeitet hat, und nicht Toni Hofreiter?
Cem Özdemir hat die Fähigkeit, Brücken zu bauen in gesellschaftliche Bereiche, in denen es manche Vorbehalte gegen die Grünen gibt. Beim Bauerntag wird den Grünen bisher nicht unbedingt applaudiert. Da jetzt jemanden zu haben, der gemeinsam mit den Landwirtinnen und Landwirten daran arbeiten wird, eine sichere Perspektive für die Betriebe und die Transformation zu mehr Tierwohl und Klimaschutz zu schaffen, ist sehr wertvoll.
Über Ihre Bisexualität sprechen Sie selbst. Anfeindungen erleben Sie wegen Ihres Gewichts, weil Sie Frau und jung sind. Sollten diese Charakteristiken überhaupt Thema medialer oder öffentlichen Debatten sein?
Sie können dann politisch sein, wenn man daraus einen politischen Anspruch ableitet. Das tue ich, wenn ich mich zum Beispiel dafür einsetze, dass wir queere Menschen besser vor Gewalt schützen. Aber das ist nicht, was mich als Politikerin ausmacht. Als Politikerin bin ich keine Ansammlung von Identitätsmerkmalen, sondern das, was ich erreichen will, das, was ich an Zielen, Wünschen und vielleicht auch Fehlern habe.
Sie sind darauf gefasst, als Vorsitzende noch mehr persönliche Anfeindungen aushalten zu müssen?
Ich weiß, worauf ich mich einlasse und fühle mich gut vorbereitet.
Das Gespräch mit Ricarda Lang führte Sebastian Huld
Quelle: ntv.de