Interview mit Markus Reisner "Nach den Drohnen kommen die Marschflugkörper"
20.10.2022, 20:15 Uhr
Mit dem Drohnen- und Raketenterror will Russland die ukrainische Zivilbevölkerung zermürben.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Der Einsatz von Drohnen gegen die Ukraine ist Teil des russischen Abnutzungskriegs, sagt Markus Reisner, Oberst des österreichischen Bundesheeres. Zusätzlich zur Offensive an der Front müsse die Ukraine ihren Luftraum schützen. "Ohne diesen Schutz für den Luftraum kann die Ukraine den Krieg nicht gewinnen."
ntv.de: Die iranische Shahed-136 wird auch als Kamikaze-Drohne bezeichnet. Heißt das, sie ist zugleich ihre eigene Munition?
Markus Reisner: Die Shahed-136 ist eine Drohne, die im Prinzip wie ein Marschflugkörper auf ein programmiertes Ziel hinunterstürzt. Sie ist dabei relativ klein, und das macht es den herkömmlichen Fliegerabwehrsystemen sehr schwer, sie rechtzeitig zu erfassen und den Abschuss einleiten zu können. Nur moderne Multisensorsysteme können eine zeitgerechte Detektion durchführen.

Oberst Markus Reisner ist Militärhistoriker sowie Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.
(Foto: Screenshot)
Die Drohne wirkt wie ein Trumpf, den der Kreml nun aus der Tasche zieht.
Sie ist sehr einfach einsetzbar. Eine Taktik zum Beispiel ist, Drohnen vorzuschicken, die dann die Fliegerabwehr des Gegners binden. Das Abwehrsystem reagiert, wehrt erfolgreich ab, hat dann aber für die nachfolgenden Angriffe keine Raketen mehr zur Verfügung. Nach den Drohnen kommen die Marschflugkörper, die nicht mehr abgewehrt werden können und ungehindert das Ziel angreifen. Diese Taktik wenden beide Seiten an.
Welche Bedeutung könnten Luftangriffe für den Verlauf des Krieges gewinnen?
Russland hat neben dem, was taktisch/operativ auf dem Gefechtsfeld passiert, ja auch eine strategische Ebene, die es gegen die Ukraine zur Anwendung bringt. Und das ist der Abnutzungskrieg, vor allem durch den Einsatz von Marschflugkörpern, ballistischen Raketen und jetzt auch Drohnen gegen Ziele in der ganzen Ukraine. Für die ukrainische Armee bedeutet das: Zusätzlich zur Offensive an der Front muss sie ihren Luftraum schützen, damit solche Angriffe unterbunden werden und die Infrastruktur nicht zerstört wird. Ohne diesen Schutz für den Luftraum kann die Ukraine den Krieg nicht gewinnen.
Nimmt dieses Problem gerade drastisch zu?
Russland hat die Zahl der Einsätze von Marschflugkörpern, ballistischen Raketen und Drohnen stark erhöht. Im Juni lag sie laut Präsident Selenskyj bei 2700, im August lag sie bei 3900 und jetzt sind wir bei über 4200. Die Russen haben es offenbar rechtzeitig geschafft, ihre Waffenlager, die sich bereits leerten, mit anderen Waffensystemen aufzufüllen. Mittelfristig kommen womöglich iranische Raketen dazu. Dadurch können die Russen das Momentum der strategischen Abnutzung weiter aufrechterhalten, während die Ukraine zu wenig vor allem moderne Luftabwehrsysteme hat, um hier nachhaltige Wirkung zu erzielen.
Wie laufen die Drohnenangriffe ab?
Üblicherweise greifen die Russen in Wellen an: über den Tag verteilt etwa zwei- bis dreimal und dann mit einem ganzen Schwarm von Drohnen zeitgleich. Wenn dann etwa fünfzehn Drohnen einfliegen, werden von der Fliegerabwehr vielleicht zehn abgeschossen. Fünf treffen somit trotzdem noch ihr Ziel. Das ist verheerend.
Wenn die Shahed sich immer selbst mit zerstört, ist Nachschub ja sehr wichtig. Wie schnell bekommt Russland an neue Drohnen?
Das kann man ganz leicht herausfinden, in dem man sich die öffentlich zugänglichen Daten zum Beispiel von Flightradar anschaut. Da sehen Sie dann Transportmaschinen russischen Typs aus dem Iran nach Russland fliegen, und die werden alle beladen sein mit diesen Drohnensystemen. Die Ukrainer haben laut eigener Aussage in den bisherigen Wellen 243 Drohnen abgeschossen. Man kann davon ausgehen, dass Russland mehrere 100 bislang eingesetzt hat und auch noch mehr verfügbar sind.
In russischen Telegram-Kanälen kursiert die Behauptung, dass Moskau die Shahed-136 demnächst selbst herstellt. Kann da etwas dran sein?
Damit Sie eine Idee haben - eine solche iranische Drohne kostet etwa 18.000 bis 20.000 Euro. Im Vergleich dazu: Für eine deutsche Iris-T-Rakete bezahlen Sie eine halbe Million. Eine Shahed-136 ist also nicht sehr teuer und relativ einfach zu bauen, etwa wie ein Modellflugzeug. Man darf nicht vergessen: Der Iran leidet seit Jahren unter einem sehr strengen Sanktionsregime und war trotzdem in der Lage, diese Drohne zu entwickeln. Entsprechend ist es sicherlich auch für Russland kein Problem, in relativ kurzer Zeit mit der Produktion zu beginnen. Zumal Moskau auch jetzt schon selbst entwickelte Drohnen einsetzt, und das auch erfolgreich.
Wie kann eine bessere Abwehr gegen diese Drohnen aussehen?
Die Amerikaner könnten diese Drohnen-Angriffe relativ leicht stoppen. Sie müssten dafür nur die Satelliten-Navigation der Russen zerstören oder zumindest behindern. Wenn die nicht mehr funktionieren würde, dann könnte keine einzige dieser Drohnen oder Raketen ihr Ziel treffen, weil sie keine Daten vom Satelliten empfangen würden.
Das klingt perfekt.
Das Problem dabei: Es gibt nur ganz wenige Länder, die in der Lage wären, sich im Weltraum gegenseitig Satelliten zu zerstören. Das sind die USA, China hat diese Fähigkeiten bereits einige Male gezeigt, und auch Russland kann das.
Wenn die Drohnen plötzlich ihr Ziel nicht mehr finden, wäre Russland also klar, dass das nicht die Ukraine selbst gewesen sein kann?
Damit würden die USA aktiv in diesen Krieg eintreten und eine von Wladimir Putin gezogene rote Linie überschreiten. Das würde eine Kettenreaktion nach sich ziehen, von beiden involvierten Seiten. Es wäre eine Grenze überschritten.
Wenn man lieber unter dieser roten Linie bleiben möchte, welche Möglichkeiten gibt es dann, die Drohnenangriffe effektiver abzuwehren?
Die Ukraine hat versucht, mit den wenigen Kampfflugzeugen, die sie noch haben, die Drohnen gezielt anzugreifen. In einem Fall ist die Shahed jedoch so nah am Flugzeug detoniert, dass der Kampfjet von Trümmern getroffen wurde und abgestürzt ist.
Dann doch lieber ein Flugabwehrsystem?
Das muss allerdings sehr modern sein, denn die Shahed-136 ist nicht so einfach zu detektieren. Um sie abzuwehren, braucht man Systeme, die für die Erfassung der Flugkörper einen ganzen Mix aus Sensoren zur Verfügung haben. Sie haben optische Sensoren, akustische und elektromagnetische - damit erkennen sie die Drohne früh und können sie mittels einer Rakete oder mit Maschinenkanonen, also beispielsweise mit dem Gepard-Panzer, abfangen. Das ist praktisch die einzige Möglichkeit, eine Drohne dieser Größe zu zerstören.
Und die bräuchte man flächendeckend.
Die Größe der Ukraine ist in diesem Punkt tatsächlich ein Problem. Durch gezielte Angriffe der Russen hat sie leider auch schon viele Fliegerabwehrsysteme in diesem Krieg verloren. Zur Vorbereitung ihrer Gegenoffensive hat die ukrainische Armee versucht, ihre Fliegerabwehr zu bündeln, um den bereitgestellten Streitkräften an der Front einen Schutz vor Angriffen zu geben. In der Tiefe des Landes hat sie die Abwehr entsprechend ausdünnen müssen. Angesichts der jetzigen Angriffe auf Kiew und andere Städte fehlt diese Flugabwehr.
Was kann man machen?
Die NATO versucht nun, mit weiteren modernen Fliegerabwehrsystemen zu unterstützen, aber bei der Größe des Landes dauert das natürlich eine gewisse Zeit. In der Tat ist es auch eine Frage der verfügbaren Munition. Wir sprachen ja schon über die Drohnen, die in Schwärmen angreifen, zwei bis dreimal pro Tag. Die Abwehrraketen sind dann recht schnell abgefeuert, und die Frage ist: Gibt es Nachschub, ja oder nein?
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de