Politik

Nico Lange zur Offensive "Was wir in der Ukraine sehen, sind nicht die klassischen Minenfelder"

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In der Region Saporischschja läuft ein ukrainischer Soldat auf ein zerstörtes russisches Fahrzeug zu.

In der Region Saporischschja läuft ein ukrainischer Soldat auf ein zerstörtes russisches Fahrzeug zu.

(Foto: IMAGO/Ukrinform)

Der Sicherheitsexperte Nico Lange hält die Lieferung von Marschflugkörpern an die Ukraine für wichtig, damit die ukrainische Offensive Erfolg haben kann. Für Deutschland gebe es zwei Möglichkeiten: Man könne die Taurus-Marschflugkörper technisch anpassen und dann liefern. Oder Briten und Franzosen geben der Ukraine mehr Storm Shadows und SCALP und Deutschland füllt deren Bestände mit Taurus wieder auf. Im Interview mit ntv.de fordert Lange zudem neue Lösungen für die Räumung von Minenfeldern und spricht über die Stimmung in der ukrainischen Armee.

ntv.de: Es gibt kleinere ukrainische Erfolge entlang der Frontlinie, aber keine echten Durchbrüche, auch wenn die Offensive schon zwei Monate läuft. Sie waren vor Kurzem in der Ukraine - woran fehlt es der ukrainischen Armee? An Material, an Soldaten oder an einem guten Plan?

Nico Lange: Die Ukraine hat Material, sie hat hoch motivierte Soldatinnen und Soldaten und sie hat einen Plan. Man muss sich jedoch fragen, ob Erwartungen und militärische Realität zusammenpassen. Die Gegenoffensive begann vielleicht zu optimistisch. Die Ukraine musste feststellen, dass sie die erhofften Durchbrüche nicht erreichen kann.

Nico Lange ist Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz. Bis Anfang 2022 war er Leiter des Leitungsstabs im Bundesministerium der Verteidigung. Lange lebte und arbeitete lange in der Ukraine und in Russland, er spricht fließend Ukrainisch und Russisch.

Nico Lange ist Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz. Bis Anfang 2022 war er Leiter des Leitungsstabs im Bundesministerium der Verteidigung. Lange lebte und arbeitete lange in der Ukraine und in Russland, er spricht fließend Ukrainisch und Russisch.

(Foto: privat)

Woran liegt das?

Die Ukraine besitzt keine Luftüberlegenheit und hat es mit sehr ausgedehnten und noch dazu gemanagten Minenfeldern zu tun. Im Süden der Ukraine kommt hinzu, dass das Gelände sehr übersichtlich ist: Die Steppe dort ist flaches Land, da kann man kilometerweit gucken. Alles, was die Ukrainer dort machen, wird von den Russen sofort gesehen und bekämpft.

Hat die Ukraine ihr Vorgehen nicht angepasst?

Das hat sie natürlich. Mittlerweile beschränkt sich die ukrainische Armee darauf, kleinere Vorstöße zu machen, die Minen zu räumen und systematisch die Anzahl der Geschütze der russischen Artillerie zu reduzieren. Auf diese Weise verbessert sie die Voraussetzungen für Angriffe und konnte jetzt in zwei Frontabschnitten im Süden signifikante Fortschritte erreichen, aber noch keine Durchbrüche. Insgesamt ist der Aufwand für die Ukrainer sehr viel höher, als es im Herbst letzten Jahres der Fall gewesen wäre, als die russischen Verteidigungslinien noch nicht so stark ausgebaut worden waren.

Sie haben von gemanagten Minenfeldern gesprochen. Was ist das eigentlich?

Das ist ein neues Phänomen. Was wir in der Ukraine sehen, sind nicht die klassischen Minenfelder, die man noch aus Balkankriegen der 1990er Jahre kennt - also Gebiete, in denen systematisch Minen verlegt wurden, die später mühevoll beseitigt werden mussten, weil es die Verlegepläne nicht mehr gab. Einige Minen, die Russland in der Ukraine einsetzt, sind viel moderner. Da sind zum Beispiel auch solche dabei, die sich von unten an ein Fahrzeug anhaften, wenn es darüber hinwegfährt, und die dann zu einem späteren Zeitpunkt explodieren. Zudem sind diese Minenfelder sehr, sehr groß, man kann sie nicht umgehen, wie es zum Beispiel die Bundeswehr übt. Die Räumung ist fast wie ein Kampf gegen Windmühlen - vor allem im flachen Gelände im Süden, wo man von allen Seiten gesehen wird.

Das macht das Minenräumen noch gefährlicher.

Die Pioniere der ukrainischen Armee sind immer unter Feuer und in allergrößter Gefahr. Dass die Minenfelder gemanagt sind, heißt auch: Ständig werden mit modernen Minenwerfern neue Minen verlegt. Diese Minen sind das größte Hindernis. Das haben die Ukrainer und auch ihre Partner vorher so nicht eingeschätzt - einfach, weil man mit solchen Minenfeldern keine Erfahrung hatte.

Sie haben mit Blick auf die Minenfelder vorgeschlagen, über "ganz neue Lösungen" nachzudenken. In welche Richtung könnten die gehen?

Die Fähigkeiten der bisher verfügbaren Systeme zur Beseitigung von Minen stehen in keinem Verhältnis zur Größe der Minenfelder. Es gibt ein amerikanisches System, das mit einem Schuss eine Schneise von acht Metern Breite und hundert Metern Länge in ein Minenfeld schlagen kann. Bei einem Minenfeld mit einer Tiefe von drei oder fünf Kilometern müssen Sie also dreißig oder fünfzig Mal mit dieser Waffe schießen, um einen schmalen Durchgang zu erhalten. Das dauert viel zu lange, da fehlt dann auch völlig das Element der Überraschung.

Deshalb braucht man eine neue Lösung.

Ja. Es wird auch bereits experimentiert - mit autonomen Fahrzeugen, mit Robotern, mit Drohnen, mit Sprengmitteln und Ähnlichem. Man braucht etwas, das schneller geht und viele Minen in hoher Geschwindigkeit räumen kann.

Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, hat der "Rheinischen Post" gesagt, "Langstreckenraketen aus Deutschland würden wir gerne nehmen, auch den Marschflugkörper Taurus". Verteidigungsminister Pistorius hat allerdings mitteilen lassen, dass es keine Lieferung von Taurus geben wird. Sind wir schon wieder da angelangt, wo wir waren, als Pistorius ins Amt kam?

Ich finde, grundsätzlich sollte man nichts ausschließen, schon allein, um nicht ständig Russland mitzuteilen, was man nicht machen wird. Bei den Marschflugkörpern ist es so, dass die Ukraine vor allem dann erfolgreich ist, wenn sie gezielt gegen die russische Logistik, gegen Führung und Kommunikation vorgehen kann. Wir haben ja gesehen, welch große Veränderung die HIMARS in diesem Krieg bewirkt haben. Artillerie und Raketenartillerie liefern wir bereits. Jetzt geht es darum, das Gleiche zu tun, nur eben mit höheren Reichweiten. Die Briten sind hier mit dem Marschflugkörper Storm Shadow vorangegangen, die Franzosen liefern SCALP-EG, was das gleiche Modell ist. Für die Gegenoffensive der Ukraine sind solche Systeme sehr wichtig.

Und die Taurus?

Im Sinne einer Lastenteilung zwischen den USA und Europa könnte es sinnvoll sein, dass auch wir Marschflugkörper liefern. Es gibt zwei Möglichkeiten: Man kann den Taurus technisch anpassen und dann liefern; bisher sind die Taurus nicht mit den ukrainischen Systemen kompatibel, aber bei Storm Shadow und SCALP-EG ist das ja auch gelungen. Man könnte aber auch darüber nachdenken, dass Franzosen und Briten mehr liefern und wir deren Bestände mit Taurus wieder auffüllen.

Also wieder ein Ringtausch, wie im vergangenen Jahr bei den Panzern?

Es wäre eine Möglichkeit, die den Vorteil hätte, dass für die Verwendung von Storm Shadow und SCALP-EG durch die Ukraine bereits technische Lösungen existieren.

Mit wem sprechen Sie, wenn Sie die Ukraine besuchen?

Während des Krieges sprach ich für eine Studie ausführlich mit ukrainischen Kommandeuren und Soldaten, vor allem mit Blick auf die Frage, was Streitkräfte in der NATO von der Ukraine lernen können. Da gibt es vieles, das die Ukrainer sehr gut machen, teilweise viel besser als wir. Durch meine Jahre in der Ukraine, Sprachkenntnisse und diese Interviews habe ich viele Kontakte in die Ukraine und damit auch Ansprechpartner, die ich immer wieder fragen kann: Wie ist die Lage bei euch? Wie kann man helfen? Was wird gebraucht?

Und wie schätzen Sie die Stimmung in der ukrainischen Armee ein?

Die Stimmung ist teilweise natürlich sehr ernst, weil es immer wieder Nachrichten oder direktes Erleben von Gefallenen, von Verwundungen, auch von psychischen Belastungen gibt. Aber es gibt eine ganz große Entschlossenheit, grimmigen Humor und einen fast schon unerschütterlichen Optimismus. Die Menschen wollen sich gegen Russland verteidigen, sie wollen unbedingt ihre Heimat befreien und sie glauben, dass sie sich am Ende durchsetzen werden, auch wenn sie wissen, dass es schwierig ist. Es ist bewegend, aber macht einen oft auch wütend auf diejenigen bei uns, die so tun, als seien sie selbst die Betroffenen dieses Krieges.

Westliche Staaten wollen der Ukraine für die Zeit nach dem Krieg bilaterale Sicherheitsgarantien geben - wie genau die aussehen werden, ist noch unklar. Putins Sprecher hat gerade erneut gesagt, solche Garantien würden dem Prinzip der "Unteilbarkeit" der Sicherheit widersprechen, was "zu einer weiteren Verschlechterung der Sicherheitslage auf dem europäischen Kontinent führen" werde. Ist das ein legitimer Punkt?

Russland sagt "Unteilbarkeit der Sicherheit", meint damit aber russische Dominanz in Europa. Deswegen führt es ja auch diesen imperialistischen Krieg. Russland will, dass seine Nachbarländer möglichst schwach sind, damit es sie unter Druck setzen, erpressen oder sogar unterwerfen kann. Die Sicherheitsgarantien, über die gerade gesprochen wird, sind eigentlich eher Sicherheitszusagen oder Sicherheitsvereinbarungen, da geht es nicht um Beistandsverpflichtungen im Sinne einer Garantie, eher um ein Netzwerk aus bilateralen Abkommen. Mittlerweile wollen neben den G7 zehn weitere Staaten mit der Ukraine über solche Abkommen verhandeln - es gibt also schon mindestens 17 Staaten, die sich verpflichten wollen, der Ukraine jedes Jahr in einem bestimmten Umfang Waffen, Munition und Material zu liefern, vielleicht auch Waffen und Munition gemeinsam zu produzieren, zusammen Truppen auszubilden und zu üben.

Das ist aber kein Ersatz für die Beistandsverpflichtung der NATO.

Nein, aber auf dem Weg zur NATO-Mitgliedschaft schafft es mehr Sicherheit für Ukraine. Diese Abkommen sollen die Ukraine dazu in die Lage versetzen, sich selbst verteidigen zu können und so stark zu sein, dass Russland vor erneuten Angriffen zurückschreckt. Dass Russland das nicht passt, dass Russland immer noch von dem Gedanken getrieben ist, Länder in der Nachbarschaft zu bedrohen oder sogar weitere Überfälle zu starten, bestätigt nur, dass man bei solchen Sicherheitszusagen zu Ergebnissen kommen muss.

Mit Nico Lange sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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