Reisners Blick auf die Front "Für einen Durchbruch fehlen der Ukraine wesentliche Voraussetzungen"
31.07.2023, 16:39 Uhr Artikel anhören
In der Nähe von Bachmut laden ukrainische Soldaten einen Raketenwerfer.
(Foto: picture alliance / AA)
Einen operativen Durchbruch hat die Ukraine bei ihrer Offensive gegen die russischen Besatzungstruppen bislang nicht erreicht. Was der Ukraine für einen Erfolg fehlt, erklärt der österreichische Oberst Markus Reisner am Beispiel der "Operation Cobra" aus dem Zweiten Weltkrieg.
ntv.de: Die ukrainische Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar schrieb am Wochenende auf Telegram, die ukrainische Armee rücke im Süden "allmählich, aber sicher" in Richtung Melitopol und Berdjansk vor. Ist das nach Ihren Beobachtungen richtig?

Jeden Montag beantwortet Oberst Markus Reisner bei ntv.de Fragen zur aktuellen Lage in der Ukraine. Er ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.
(Foto: privat)
Markus Reisner: Es kommt darauf an, wie man "vorrücken" definiert. In gewisser Weise gab es in den letzten Wochen ein Vorrücken, aber dabei geht es immer nur um wenige hundert Meter. Wir dürfen nicht vergessen, dass die ukrainische Offensive mittlerweile seit 58 Tagen andauert. Bislang hat sie nur wenige Kilometer erzielt. Einen operativen Durchbruch gibt es noch nicht.
Vor einer Woche sprachen Sie davon, dass die Ukraine versucht habe, mit Stoßtrupps östlich und westlich von Robotyne anzugreifen.
Genau, doch kürzlich gab es wieder massive Angriffe südlich von Orichiw, wo die 47. Mechanisierte Brigade im Einsatz ist, die über Bradleys und Leopard-2-Kampfpanzer verfügt. Diese Brigade wurde diesmal unterstützt von der 118. Mechanisierten Brigade, einer Brigade der 2. Staffel der sogenannten "Brigaden der Offensive". Aber auch hier ist es nicht zu massiven Durchbrüchen gekommen, im Gegenteil: Der Angriff verlief sehr verlustreich. Es gibt Bilder, die zeigen, dass alleine bei einem Vorstoß eine gemischte Panzer- und Schützenpanzerkompanie mit über zehn Fahrzeugen und Besatzungen vernichtet wurde, so dass die Bilanz eher betrüblich ist.
Im Frontbogen ostwärts von Orichiw, südlich von Welyka Nowosilka, hat die ukrainische Armee den nördlichen Teil der Ortschaft Staromajorske eingenommen. Mittlerweile gibt es allerdings Meldungen von russischer Seite, in denen behauptet wird, dass dieses Gebiet wieder teilweise zurückerobert wurde, beziehungsweise durch Feuer kontrolliert wird. Die Meldungen sind unterlegt mit Videos von Kriegsgefangenen aus diesem Bereich. Solche Videos sind häufig ein Indikator für die wechselseitigen Erfolge.
Die Vize-Verteidigungsministerin sagte, auch bei Bachmut sei die Ukraine vorgerückt.
Dieser Vorstoß ist nach wie vor am erfolgreichsten. Südlich von Bachmut hat die Ukraine den großen Vorteil, dass die Russen in den letzten Monaten nicht die Zeit hatten, sich so einzugraben, wie das im Süden der Fall war. Dort kann man durchaus davon sprechen, dass die Ukraine sukzessive in Richtung Osten marschiert. Umschlossen haben die ukrainischen Truppen die Stadt aber noch nicht.
Und die Russen?
Die Russen gehen ebenfalls in die Offensive, und zwar westlich von Swatowe. Hier haben sie sich einige Kilometer in Richtung Westen bewegt. Gleichzeitig gibt es von dort Berichte, dass die Ukraine einen Geländeabschnitt zurückerobert hat. Man muss sich diese Kämpfe vorstellen wie bei einem Schachbrett: Dort gibt es ungefähr 2 mal 2 oder 1,5 mal 2 Kilometer große Felder, die von Baumreihen, sogenannten Windschutzgürteln, begrenzt sind. Gekämpft wird gewissermaßen von einem Windschutzgürtel zum nächsten. Im Moment sehen wir also einen Kampf um namenlose Felder, die sich immer noch im Vorfeld der russischen Verteidigungsstellungen befinden. Beim Vorstoß südlich von Orichiw hat die Ukraine vor wenigen Tagen den Panzergraben der Stellungen der ersten Verteidigungslinie erreicht.
Wie würde denn eine erfolgreiche Offensive aussehen?
Eine erfolgreiche Offensive ist immer von einem Durchbruch auf operativer Ebene gekennzeichnet. Das bedeutet, dass der Angreifer in die Tiefe vorstößt und beim Gegner einen Dominoeffekt auslöst, bis hin zum Zusammenbruch der Front. Ein großer Durchbruch würde die ukrainischen Truppen im Süden beispielsweise bis zum Stadtrand von Tokmak bringen, damit sie von dort weiter vorstoßen können in Richtung Melitopol oder Mariupol oder gar der Krim.
Ein historisches Beispiel für eine erfolgreiche Offensive ist die amerikanische "Operation Cobra" im Zweiten Weltkrieg. Das war der entscheidende Durchbruch, der es den westlichen Alliierten 1944 ermöglicht hat, aus ihren Brückenköpfen in der Normandie auszubrechen und die deutschen Truppen im Kessel von Falaise einzuschließen. Die deutsche Kriegführung in Frankreich war damit letztlich beendet. Für diesen Erfolg gibt es im Wesentlichen zwei Erklärungsansätze: Zum einen haben die Briten die deutschen Panzerverbände bei Caen gebunden. Zum anderen gab es massive vorbereitende Luftangriffe der Amerikaner in der geplanten Einbruchstelle. Wären die nicht gewesen, hätten die Panzerdivisionen der US-Armee nicht so schnell bei Saint-Lô durchbrechen können.
Die Ukraine hat keine Luftwaffe, mit der sie solche Vorbereitungsangriffe durchführen könnte.
Das ist der zentrale Punkt. In der NATO-Taktik von Landstreitkräften gibt es den Begriff "SOSRA": suppress, obscure, secure, reduce, and assault. Dies bedeutet ein Unterdrücken der gegnerischen Feuerstellungen, ein Verschleiern der eigenen Annäherung durch Nebel, ein Sichern der geplanten Einbruchstelle gegen einen feindlichen Reserveneinsatz, ein Verringern der Sperren und Minen durch gezieltes Räumen oder bombardieren und schließlich ein geballtes Angreifen zum Durchbruch. Jeder Schritt bezeichnet also eine taktische Maßnahme. Für die Ukraine ist ein solches Vorgehen nicht möglich. Sie kann zum Beispiel kaum eine Unterdrückung oder Verringerung des Gegners und seiner Stellungen erreichen, die eine Voraussetzung für einen Durchbruch ist. Dort, wo sie es jedoch mit der Stoßtrupp-Taktik versuchen, sind sie auch erfolgreich, dort geht es zwei Schritte vor und einen zurück. Aber immer dann, wenn sie versuchen, einen massiven Angriff durchzuführen, dann scheitert dies, weil die wesentlichen Voraussetzungen fehlen.
Dem Sender "Welt" erzählte ein ukrainischer Soldat Anfang Juli, dass sie bei der Leopard-2-Einweisung die Kollegen bei der Bundeswehr gefragt hätten, wie sie denn durch ein Minenfeld gehen würden. Die Antwort: Wir fahren drumherum. Aber in der Ukraine geht das nicht, da sind die Minenfelder nicht ein paar hundert Quadratmeter groß, sondern mehrere Hektar. Ist diese Geschichte symptomatisch? Fehlt es im Westen mitunter an Verständnis für die Situation an der Front in der Ukraine?
Darauf ist auch der deutsche Brigadegeneral Christian Freuding eingegangen. Er sagte kürzlich, wenn die Bundeswehr auf Minenfelder treffe, dann sei der Grundsatz: ausweichen und umgehen, aber angesichts des Ausmaßes der Minensperren in der Ukraine sei dieser Grundsatz nicht zu befolgen. Das stimmt. An vielen Stellen in der Ukraine hatten die Russen monatelang Zeit, sich einzurichten.
Warum war das möglich?
Denken Sie zurück an das vergangene Jahr, als die Ukraine damit begonnen hat, mehrere Offensiven durchzuführen. Am Beginn stand die Offensive bei Cherson. Hier hat die Ukraine versucht, den Brückenkopf der Russen auf der westlichen Seite des Dnipro einzudrücken. Dann hat sie mit der Offensive bei Charkiw begonnen. Die war am erfolgreichsten. Die Russen hatten dort zu diesem Zeitpunkt nicht genug Kräfte verfügbar. In Cherson war es für die Ukraine schwieriger, weil die Russen die Stadt schon unmittelbar nach Kriegsbeginn eingenommen hatten und sich dort einrichten konnten. Beim Vormarsch auf Cherson haben die ukrainischen Soldaten daher zum Teil schwere Verluste erlitten. Trotzdem kam es dann zum Abzug der Russen aus Cherson - ich behaupte: aufgrund einer Absprache im Hintergrund, an der die USA beteiligt waren. Es gibt jedenfalls einige Indizien, die in diese Richtung deuten - wir haben darüber ja schon einmal gesprochen. Dadurch wurde es möglich, dass die Russen plötzlich innerhalb von 48 Stunden rund 30.000 Mann und 2500 Fahrzeuge aus dem Brückenkopf Cherson abgezogen haben und die Ukraine nachgerückt ist. Aus meiner Sicht war das ein russisches Dünkirchen.
Im Zweiten Weltkrieg haben Briten und Franzosen die Hafenstadt Dünkirchen so lange gegen die Deutschen verteidigt, bis mehr als 300.000 Soldaten nach England gebracht werden konnten.
Für den Verlauf des Zweiten Weltkriegs war die Rettung dieser Kräfte von großer Bedeutung. Und das gilt auch für die Russen in der Ukraine: Ein Teil dieser 30.000 Mann, darunter viele Elitesoldaten der Luftlandetruppen, wurde nach Bachmut verlegt, um dort gemeinsam mit den Wagner-Söldnern Druck auszuüben. Dieser Druck führte dazu, dass die Ukraine mehr Kräfte nach Bachmut entsenden musste. Das wiederum war der Grund, warum die Ukraine ihre dritte Offensive aufschieben musste, die eigentlich schon für das vergangene Jahr geplant war - und zwar genau an der Stelle, wo sie heute stattfindet, nördlich von Melitopol. Dadurch haben die Russen sechs Monate gewonnen, die sie genutzt haben, um ihre Verteidigungslinien massiv auszubauen - die sogenannte Surowikin-Linie, benannt nach dem russischen General Sergej Surowikin, dem kurzzeitigen Kommandeur der russischen Armee in der Ukraine.
Alexander Gabuev vom Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin argumentiert in der "Financial Times", Putin suche keinen Ausweg aus dem Krieg, er wolle den Krieg noch größer machen. Sehen Sie Anhaltspunkte, die diese These unterstützen?
Offensichtlich ist, dass Putin nach wie vor auf seiner Klaviatur der Bedrohungen spielt. Zum Beispiel der Ausstieg aus dem Getreideabkommen. Das ist ein Versuch, Druck auf die afrikanischen Staaten und somit auf den Westen auszuüben. Dann die Ankündigung, russische Atomraketen in Belarus zu stationieren, was möglicherweise längst stattgefunden hat. Oder der Einsatz von Wagner in Belarus. Wagner hat hier mit der Ausbildung der belarussischen Streitkräfte eine neue Aufgabe bekommen. Zugleich wird durch die Stationierung in unmittelbarer Nähe zur polnischen Grenze Unruhe in der NATO ausgelöst.
Sind die Wagner-Söldner in Belarus eine reale Gefahr für Polen oder die NATO?
Ich denke, dass Putin sich hüten wird, einen NATO-Staat direkt anzugreifen. Aber er versucht, eine weitere Drohkulisse aufzubauen. Das alles ist Teil des hybriden Kriegs. Dazu gehört auch, dass Belarus offensichtlich wieder damit angefangen hat, Migranten einzufliegen, um sie über die Grenze nach Polen zu schicken. Oder die jüngsten Ereignisse in Afrika, die man nicht übersehen sollte: Mit Unterstützung der Wagner-Söldner ist in der Sahelzone ein Land nach dem anderen an Russland gefallen. Für Frankreich ist der Putsch in Niger eine existenzielle Frage, denn das Land war bislang ein wichtiger Lieferant von Uran für die französische Atomwirtschaft. Putin versucht also an mehreren Stellen, Druck auf Europa auszuüben.
Mit welchem strategischen Ziel?
Er will den Westen drängen, die Ukraine fallen zu lassen. Um diesen Weg beschreiten zu können, setzt er vor allem hybride Mittel ein. Ob das gelingt, ist infrage zu stellen, aber Fakt ist, dass der Westen und die westlichen Bevölkerungen verdrossener werden, je länger dieser Krieg dauert. Und mittlerweile hat er sich offenbar das Ziel gesetzt, die Ukraine in ein ödes Glacis zu verwandeln, als Vorfeldverteidigungsraum gegen die NATO.
Ein Glacis?
Der Begriff kommt aus dem Festungsbau der frühen Neuzeit. Das war ein unbesiedelter Raum vor einer Festung, in dem im Fall eines Angriffs die Abwehr stattfand. In Wien beispielsweise war das der Bereich jenseits des Ringes, der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unbebaut blieb, aus Angst, dass die Osmanen noch einmal angreifen würden. Großreiche haben immer versucht, Pufferzonen um sich herum einzurichten - möglichst entvölkert oder menschenleer, damit ein Angreifer dort keine Unterstützung finden kann. Wenn man sich anschaut, welche Zerstörung Russland in der Ukraine bei seiner angeblichen "Befreiung" betreibt, dann muss man davon ausgehen, dass es dort genau dieses Ziel verfolgt.
Mit Markus Reisner sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de