Russischer Ex-Diplomat Bondarew "Putin kann Zehntausende Rekruten opfern, ohne dass es jemanden stört"
13.02.2024, 16:27 Uhr Artikel anhören
"Ja, er ist ein Spieler", sagt Boris Bondarew über Putin. "Vor allem aber kann er nicht verlieren."
(Foto: via REUTERS)
Boris Bondarew arbeitete zwanzig Jahre in den Diensten Russlands. Als Diplomat war er in Genf eingesetzt, wo er in Fragen der Rüstungskontrolle verhandelte. Als sein Heimatland die Ukraine angriff, quittierte er aus Protest den Dienst und betrat die Botschaft seitdem nie wieder. Über seine Zeit als russischer Diplomat hat er ein Buch geschrieben, das an diesem Mittwoch erscheint. Heute Abend zeigt das RTL Nachtjournal ein Interview mit Boris Bondarew.
ntv.de: Herr Bondarew, erinnern sich noch an den 24. Februar 2022, an den Angriff?
Boris Bondarew: Wie jeden Morgen checkte ich auf meinem Handy die Nachrichten und die waren schrecklich. Die russische Luftwaffe bombardierte Kiew. Es war eine groß angelegte Invasion. Wir hätten mit den Ukrainern streiten können, diskutieren. Wir hätten unterschiedlicher Meinung sein können. Das wäre alles normal gewesen. Aber ein Land angreifen, dessen Bevölkerung uns geschichtlich und kulturell so nahesteht? Das war für mich unvorstellbar.
Sogar Sie als russischer Diplomat hatten keine Informationen über den bevorstehenden Angriff?
Nein. Ich war mir auch bis zuletzt sicher, dass das alles nur eine Art Machtspiel war, ein diplomatisches Spiel. Wir schieben unsere Truppen hierhin, dann dorthin. Wir machen Druck auf den Westen, auf die USA, die NATO-Staaten. Damit sie auf unsere Forderungen eingehen.
Hätten Sie eine so große Eskalation des Krieges erwartet?
Es gab keinen wirklichen Grund für diesen Krieg. Also keinen objektiven Grund. Dahinter steckten viel mehr die persönlichen Wünsche der Moskauer Führung. Die wollten der ganzen Welt zeigen, vielleicht auch sich selbst, wie stark sie noch sind. Zu welch großen Dingen sie fähig sind. Dass Russland noch immer eine Großmacht ist und dass sich jeder den russischen Vorgaben unterwerfen müsse.
Sie waren in einer ziemlich sensiblen Mission unterwegs.
Mein Spezialgebiet war die Rüstungskontrolle, was ja gerade jetzt wieder sehr relevant ist. Da geht es um die verschiedenen Waffentechnologien. Auch um zivile Komponenten, die für die Rüstungsproduktion gebraucht werden. Da habe ich sehr tiefe Einblicke, ein großes Wissen. Das ist natürlich alles sehr sensibel. Gerade wenn es um nukleare oder biologische Waffen geht. Um Drohnen und so weiter, also alles, was heute für den Krieg entscheidend ist.
Als Sie den Krieg quittierten, gab es Drohungen oder Einschüchterungsversuche?
Nein, die gab es nicht.
Überrascht Sie das?
Nein, ich bin nicht überrascht. Sie schicken dir keine Drohung. Wenn sie dich ins Visier nehmen, dann machen sie das lautlos. Sie würden dich niemals vorher warnen.
Sie haben tiefe Einblicke in den russischen Militärapparat gewonnen. Wie stark ist das russische Militär heute?
Die russische Rüstungsindustrie ist zutiefst korrupt. Und sie wird höchst ineffizient gemanagt. Von Leuten, die überhaupt keine Ahnung von ihrer Arbeit haben. Niemand will mehr im Rüstungssektor arbeiten, weil da sehr schlecht gezahlt wird. Deswegen sind die Arbeiter heute oft 70 oder 80 Jahre alt.
Präsident Putin zeichnet trotzdem immer ein bedrohliches und entschlossenes Bild der russischen Streitkräfte. Reine Propaganda also?
Es mag zum Teil Propaganda sein. Teils ist er davon wirklich überzeugt. Das liegt am Meldewesen. Die unteren Ebenen berichten ihren Vorgesetzten nicht die Wahrheit. Sie wollen nicht zugeben, dass zum Beispiel die Produktion von Panzern und Flugzeugen katastrophal läuft, weil sie Angst haben, dann bestraft zu werden. So geht das auf allen Ebenen - immer wird viel zu positiv berichtet. Und ganz oben kommt dann ein völlig verzerrtes Idealbild an, das den Eindruck einer starken und effizienten Militärstruktur vermittelt. Und im Kreml sagen sie dann: Wow, wir stehen großartig da. Warum sollten wir nicht in den Krieg ziehen?
Aber dieses Bild geht völlig an der Realität vorbei?
Wenn wir von moderner Kriegsführung sprechen - etwa hochpräzise Luftschläge oder moderne Raketentechnologie -, dann sind die russischen Streitkräfte dazu nicht in der Lage. Aber wenn wir vom guten alten Kriegshandwerk sprechen, mit Hunderttausenden, ja Millionen von Soldaten, mit Tausenden Panzern - vielleicht alt, aber immer noch funktionsfähig -, mit massenhaft Artilleriemunition, dann steht das russische Militär weiterhin gut da. Denn die Stärke Russlands ist leider immer noch, dass menschliche Leben kaum zählen. Putin kann Zehntausende von Rekruten opfern, ohne dass es jemanden stören würde.
Dass er seine Truppen jetzt in so einen Krieg geführt hat, was sagt das über Putin: dass er naiv ist? Oder ein Spieler?
Ja, er ist ein Spieler. Vor allem aber kann er nicht verlieren. Er will auf keinen Fall als Verlierer gesehen werden. Auch wenn der Krieg nicht so verläuft, wie er sich das vorgestellt hatte. Aber er würde nie sagen: Ok, sorry, wir haben einen Fehler gemacht. Lasst uns Frieden schließen. Wir ziehen uns zurück. Das wäre ein Zeichen von Schwäche. Er würde sich niemals für etwas entschuldigen.
Was treibt ihn an, was ist seine Ideologie?
Putin verfolgt keine Ideologie. Er will nur allen zeigen, dass es zu seiner Herrschaft keine Alternative gibt. Für ihn kann Russland nur so geführt werden, wie er es macht. Andere Varianten, wie Demokratie, funktionieren nicht. Und dann will er den Westen erniedrigen, wo es nur geht.
Der deutsche Bundeskanzler sagt, Russland darf den Krieg nicht gewinnen und die Ukraine den Krieg nicht verlieren. Wie sehen Sie das?
Im Krieg geht es in der Regel um Sieg oder Niederlage. Aber bei dieser Art von kniffliger Rhetorik, da geht es dem deutschen Kanzler nur darum, eine klare Aussage zu vermeiden. Wenn ein Krieg aber bereits ausgebrochen ist und man seine Seite gewählt hat, dann muss man auch eine Haltung haben. Man braucht eine eindeutige und klar definierte Strategie. Dann muss man auch alles dafür tun, um zu gewinnen.
Hat der Westen das wirklich verstanden?
Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen in Europa zwei Jahre nach Kriegsbeginn noch immer glauben, sie könnten das ignorieren, alles irgendwie aussitzen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wenn du ein Problem ignorierst, dann verschwindet es nicht - es wird immer größer. Das ist wie beim Krebs. Bösartige Zellen kannst du anfangs vielleicht noch bekämpfen, aber wenn du zu lange wartest, dann frisst sich der Tumor tiefer und tiefer und irgendwann ist es zu spät.
Wie gefährlich ist der Krieg in der Ukraine für den Westen?
Wenn die Ukraine verliert und Putin gewinnt, dann wäre das für den Westen ein schwerer Schlag. Das Image des Westens, die Zuverlässigkeit in militärischen Fragen würden schweren Schaden nehmen. Und es würde der Welt zeigen: Die Europäer sind nicht dazu bereit, sich selbst zu verteidigen. All das Gerede über liberale Werte, über Demokratie und Menschenrechte, dafür sind sie nicht bereit zu kämpfen. Und das würde natürlich andere wie China, Iran, Afghanistan oder Nordkorea anspornen. Jeden Diktator auf der Welt.
Wie könnte der Krieg in der Ukraine enden?
Wenn Russland verliert, dann wird die Wirtschaft immer tiefer fallen. Die Unzufriedenheit wird steigen. Putins eigene Elite wird irgendwann beginnen zu fragen, wofür das alles? Er hat uns doch nur Elend gebracht.
Mit Boris Bondarew sprach Markus Frenzel
Quelle: ntv.de
