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Nawalny-Vertrauter Wolkow "Putin muss vernichtet werden"

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Ist er "geistesgestört", wie Wolkow sagt? Bei seinem letzten Auftritt vor einer westlichen Kamera zeigte sich Präsident Putin in dieser Woche besessen von der russischen Geschichte.

Ist er "geistesgestört", wie Wolkow sagt? Bei seinem letzten Auftritt vor einer westlichen Kamera zeigte sich Präsident Putin in dieser Woche besessen von der russischen Geschichte.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Leonid Wolkow ist Vertrauter von Alexej Nawalny und eine der wichtigsten Stimmen der russischen Opposition. In seinem Buch "Putinland", dessen erweiterte Ausgabe vor Kurzem erschienen ist, beschreibt der Politiker, wie das russische Regime funktioniert - ein System, das nach Wolkows Worten "am Rande der Katastrophe" ist. Worauf sein Optimismus beruht, darüber spricht der im litauischen Exil lebende Politiker im Interview mit ntv.de. Es beantwortet aber auch die Fragen, warum es "Quatsch" ist, dass die russische Wirtschaft wächst, und warum Menschen, die zu Verhandlungen mit Putin aufrufen, "Idioten" sind.

ntv.de: Im Vorwort zur neuen Ausgabe Ihres Buchs "Putinland" schreiben Sie: "Putin hat sich und sein System an den Rand der Katastrophe gelenkt. In dieser Katastrophe, davon bin ich überzeugt, werden er und seine Schergen untergehen". Ein Blick in die Nachrichten zeigt aber ein anderes Bild.

Leonid Wolkow: Nach den ersten Erfolgen der ukrainischen Armee gab es extrem hohe, unrealistische Erwartungen an das Jahr 2023. Alle haben eine erfolgreiche Offensive erwartet, und dass die ukrainische Armee bald mit Leoparden und Abrams auf den Roten Platz fährt. Dann wurden diese überhöhten Erwartungen von einer Enttäuschung abgelöst: Für uns ist alles schrecklich, für Putin sieht es dagegen blendend aus. Für eine langfristige politische Planung sollte man jedoch diese emotionalen Extreme vermeiden und das große Ganze betrachten.

"Putins Diagnose ist seit zehn Jahren bekannt", sagt Leonid Wolkow im ntv.de-Interview.

"Putins Diagnose ist seit zehn Jahren bekannt", sagt Leonid Wolkow im ntv.de-Interview.

(Foto: picture alliance / SvenSimon)

Und was zeigt ein Blick auf das große Ganze?

Dass es Putin eher so lala geht. Das wichtigste Ereignis des vergangenen Jahres war der Aufstand von Prigoschin. War so etwas im Vorkriegs-Russland vorstellbar? Offensichtlich nicht. Allein schon die Tatsache, dass eine Krise von solchem Ausmaß entstehen konnte, zeigt, wie sehr es für Putin nicht nach Plan läuft und dass der Grad seiner Kontrolle über die Situation abgenommen hat. Es gibt keine Garantie, dass solche Krisen nicht wieder entstehen.

Woran liegt es, dass Putin die Kontrolle verliert?

Er hat alle beseitigt, die es gewagt haben, ihm Feedback über die echte Lage an der Front zu geben. Er hat nicht nur Prigoschin umgebracht und Strelkow eingesperrt, er hat auch eine ganze Reihe von Generälen entlassen. Er hat unmissverständlich klargestellt, dass er mit dem Weltbild zufrieden ist, das ihm Schoigu, Gerassimow und der FSB vermitteln. Das führt dazu, dass er entsprechende Entscheidungen trifft: Angreifen ohne Rücksicht auf Verluste und die "militärische Spezialoperation" fortsetzen, bis alle Ziele erreicht sind. Das wird zu vielen weiteren Opfern, aber auch zu neuen politischen Krisen in Russland führen.

Trotz westlicher Sanktionen soll die russische Wirtschaft 2023 aber gewachsen sein.

Das ist Quatsch. Ja, das nominale Bruttoinlandsprodukt ist um ein paar Prozent gewachsen, aber das ist nichts, was man aufs Brot schmieren kann. Ein Drittel der Wirtschaft ist auf Krieg ausgerichtet. Da wird etwas hergestellt, um vernichtet zu werden. Ja, Waffenfabriken arbeiten in drei Schichten, aber es sind maximal ein paar Millionen Menschen, die in dieser Branche tätig sind. Klar, ihnen geht es großartig. Sehr viel Geld geht auch direkt an Militärangehörige und deren Familien. Es gibt viele Familien, wo der Mann früher am Ende des Monats 30.000 Rubel (umgerechnet ca. 300 Euro - Anm. d. Red.) Gehalt nach Hause brachte, trank und seine Frau verprügelte. Jetzt ist er nicht zu Hause, niemand trinkt und schlägt die Frau, und das Gehalt beträgt schon 200.000 Rubel. Und wenn man Glück hat, wird er getötet und die Frau bekommt sieben Millionen Rubel (ca. 71.000 Euro). Großartig! In diesen beiden Sektoren - Rüstungsindustrie und Familien von Militärangehörigen - ist der Wohlstand um ein Vielfaches gewachsen. Der Rest der Wirtschaft ist komplett im Arsch.

In einem Interview im August 2023 sagten Sie: "Wenn Putin weg ist, endet der Krieg am nächsten Tag". Glauben Sie das heute noch?

Natürlich. Außer Putin und ein paar Verrückten aus seiner Umgebung braucht niemand diesen Krieg. Die überwiegende Mehrheit von Putins Elite träumt davon, dass er endet. Und was noch wichtiger ist: Die meisten Russen träumen davon. Eine telefonische Umfrage, die wir im Dezember durchgeführt haben, hat gezeigt, dass 65 Prozent der Russen eine Entscheidung über die Beendigung des Krieges unterstützen würden. Und nur 18 Prozent wären dagegen oder eher dagegen. Den Menschen ist es egal, wem die Krim und der Donbass gehören, Hauptsache der Krieg endet.

Offenbar hat Putin aber nicht vor, den Krieg zu beenden. Welche Schritte könnte man unternehmen, um ihn so schnell wie möglich von der Macht zu entfernen?

Zunächst einmal aufhören, in einer Fantasiewelt zu leben. Wir müssen uns die Realität eingestehen: Putin ist immer noch stark. Die Erfahrung zeigt, dass solche Militärdiktaturen sehr lange bestehen können, oft auch bis zum Tod ihres Schöpfers. Wir haben immer gesagt, dass die Rettung nicht von außen kommen wird. Das Einzige, was die Befreiung bringen kann, ist eine grundlegende tektonische Verschiebung innerhalb des Landes. Ein Protest, ein Stimmungsumschwung im Land. Bis es so weit ist, braucht es Zeit und lange, geduldige Arbeit. Etwas, was viele Menschen als unangenehm empfinden. Eine magische Pille, die schnell alles ändern wird, gibt es leider nicht.

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Sie sagten, viele Russen seien für die Beendigung des Krieges. Sehen Sie diese Tendenz auch in der Armee?

Vor Kurzem hat die offizielle Zahl der Strafverfahren wegen Fahnenflucht 6000 überschritten. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. In den meisten Fällen werden keine Verfahren eingeleitet: Da Kommandanten der Deserteure hart bestraft werden, drücken sie in der Regel ein Auge zu und melden die Fälle nicht. Die tatsächliche Zahl der Deserteure liegt bei Zehntausenden. Wir als Politiker sind verpflichtet, solche Tendenzen zu finden und zu unterstützen: Zum Beispiel auch den Protest der Frauen und Mütter von Soldaten, oder generell aller Menschen, die Putin Fragen stellen, auf die er keine Antworten gibt.

Welche Fragen sind es?

Die Gesellschaft will wissen, wann der Krieg zu Ende ist, wann die Männer von der Front zurückkehren, und wie Putin die Armut bekämpfen will. Putin hat keine Antworten auf diese Fragen. Um von echten Problemen abzulenken, versucht der Kreml eine neue, absolut gefälschte Agenda durchzusetzen. Sie wollen über Armut sprechen? Dann sprechen wir über Unisex-Toiletten. Wollen Sie darüber sprechen, wann die Mobilisierten zurückkehren, die an der Front seit 16 Monaten verrotten? Nein, reden wir über das Abtreibungsverbot. Selbst seine Unterstützer merken, dass sie Sorgen haben, für die Putin sich gar nicht interessiert. Er erzählt ihnen stattdessen irgendeinen Mist über das Verbot der Regenbogenfahne. Und sie denken: "Geh zur Hölle mit deinem Regenbogen! Wann werden die Renten angehoben?" Hier entsteht eine wichtige, große Kluft zwischen Putin und den Wählern. Und diese Kluft versuchen wir maximal zu nutzen.

Die russische Gesellschaft ist heute mehr denn je bereit, über Politik und Zukunft zu sprechen. Selbst die absolut gefälschten und vorhersehbaren Wahlen sind ein Moment, in dem die Menschen darüber nachdenken, wie unser Land in den nächsten sechs Jahren aussehen soll. Und dementsprechend ist dies ein sehr wichtiger Moment, um ihnen zu zeigen, dass Putin keine Antworten auf ihre Fragen hat.

Sie rufen Ihre Unterstützer auf, am Wahltag um Punkt 12 Uhr in die Wahllokale zu kommen. Was erwarten Sie von dieser Aktion?

Wir erwarten, dass die Russen einander sehen. Das Ergebnis der Wahl ist längst bekannt. Wählen macht keinen Sinn, weil es keine Wahl ist. Es ist eine PR-Aktion für Putin. Für ihn ist es sehr wichtig, der Bevölkerung und dem Westen zu zeigen: Das Land ist geeint, alle unterstützen mich. Ihr seid nicht mit mir im Krieg, ihr seid im Krieg mit ganz Russland. Wir dagegen versuchen zu erklären, dass Putin nicht gleichbedeutend mit Russland ist, dass es keine Unterstützung für den Krieg in der Gesellschaft gibt. Und deshalb besteht der Sinn dieser Aktion darin, den Menschen zu zeigen, dass sie nicht allein sind, dass sie viele sind.

Die Opposition hat aber keinen Anführer. Halten Sie Alexej Nawalnys Rückkehr nach Russland nicht für einen Fehler?

Die Opposition hat einen Anführer, sein Name ist Alexej Nawalny, und wir sehen seine Führung. Auch in fast völliger Isolation formuliert und verbreitet er politische Ideen, die Millionen Unterstützer finden. Jeder sieht, wie er gefoltert wird, welche Risiken er eingeht, wie er leidet. Und die Tatsache, dass er unter diesen Bedingungen trotzdem seinen Kampf fortsetzt, ist eine Quelle der Energie für sehr viele Menschen. Man kann darüber sprechen, ob eine Handlung ein Fehler war, wenn es verschiedene Handlungsmöglichkeiten gibt. Für Nawalny gab es solche Möglichkeiten nicht. Er wusste immer, dass er nach Russland zurückkehren wird. Er ist ein russischer Politiker, der nichts Illegales oder Falsches getan hat, der immer bei seinem Volk sein wollte.

Im Westen wächst die Kriegsmüdigkeit. Was würden Sie Menschen in Deutschland sagen, warum es notwendig ist, die Ukraine weiter zu unterstützen?

Erstens ist es eine einfache moralische Entscheidung. Es ist klar, wo das Gute und wo das Böse ist. Putin ist eine große Bedrohung für die gesamte zivilisierte Welt. Aber es gibt natürlich auch rein praktische Überlegungen. Wir wissen aus der Geschichte, dass es unmöglich ist, einen Diktator zu besänftigen. Der Appetit kommt beim Essen. Jeder Versuch, mit einer nicht verhandlungsbereiten Person zu verhandeln, führt nur zu größeren Schwierigkeiten. Menschen, die behaupten, man könne mit Putin über irgendwas verhandeln, sind entweder Idioten oder sie werden von ihm bezahlt.

Verstehe ich richtig, Sie sind der Auffassung, dass Putin Europa angreifen wird, wenn er in der Ukraine gewinnt?

Klar, er wird sich etwas Neues einfallen lassen.

Aber warum? EU und NATO sind doch offensichtlich viel stärkere Gegner als die Ukraine.

Putin ist ein kranker Mann. Er ist geistesgestört. Schon 2014 nach der Krim-Annexion hatte Angela Merkel in einem Gespräch mit Barack Obama gesagt "Putin hat den Bezug zur Realität verloren". Eine richtige Diagnose, aber eine Diagnose ohne Behandlung ist wertlos. Weitere acht Jahre akzeptierte die Welt die Tatsache, dass das größte Land, das Mitglied in allen internationalen Organisationen wie G20 oder UN-Sicherheitsrat ist, von einer Person geleitet wird, die "den Bezug zur Realität verloren" hat. Hauptsache, Öl und Gas fließen weiter. Boris Nemzow hat nach der Krim-Annexion die Idee von Merkel etwas anders formuliert: "Er ist verfickt bescheuert". Wie es für Nemzow endete, ist bekannt. Auch auf seinen Mord hat der Westen gelassen reagiert. Die Diagnose ist seit zehn Jahren bekannt - wir alle wissen, dass er verfickt bescheuert ist. Wir wissen nicht, was ihm sonst noch einfallen wird. Er muss bekämpft werden und er muss vernichtet werden.

Mit Leonid Wolkow sprach Uladzimir Zhyhachou

Quelle: ntv.de

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