Politik

Ein Verwirrschritt, sonst nichts Putin nutzt die "Waffenruhe", um neue Angriffe vorzubereiten

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Setzt 2023 alles auf den Krieg: Wladimir Putin.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Die von Wladimir Putin erklärte "Waffenruhe" zum orthodoxen Weihnachtsfest ist nicht nur ein Schachzug der Kreml-Propaganda. Sie dient auch dem Zweck, Stellungen der ukrainischen Luftabwehr zu ermitteln. Das muss Beobachtern im Westen klar sein.

Als überall in der Ukraine am gestrigen Freitag kurz nach Beginn des vom russischen Präsidenten verkündeten "Waffenstillstands" Sirenen zu hören waren, hatte das - anders als etwa in der Neujahrsnacht - nichts mit neuem Massenbeschuss auf die ukrainische Energieinfrastruktur zu tun. Ausgelöst wurde der fast zweistündige Alarm, weil die russische Luftwaffe in den belarussischen Luftraum aufgestiegen war. Es handelte sich klar um die Vorbereitung von neuen Angriffen.

Denn in Belarus flogen erneut die Abfangjäger MiG-31, die Hyperschallraketen der Klasse Kinschal tragen können. Diese bereiten der ukrainischen Flugabwehr nahezu unlösbare Schwierigkeiten. Luftalarm wird in solchen Fällen daher quasi automatisch auf dem gesamten Gebiet der Ukraine ausgelöst. Zusammen mit den MiG-31 flogen aber auch Aufklärungsflugzeuge. Ihr Ziel ist es, die Flugabwehrsysteme der Ukraine aufzuspüren, damit der nächste Angriff erfolgreicher abläuft. Das geht nur dann, wenn die Systeme eingeschaltet sind.

Mittlerweile haben es die Menschen in der Ukraine dank unzähliger darauf spezialisierter Telegramkanäle gelernt, die verschiedenen Arten des Luftalarms zu unterscheiden. Wenn MiG-31s in Belarus in der Luft sind, wissen sie, dass es genau jetzt kaum zu großem Beschuss kommt - sicher aber in den nächsten Tagen.

Umso unverständlicher sind für die Ukrainerinnen und Ukrainer die vereinzelten Stimmen im Westen, die Wladimir Putins "Waffenstillstand" als eine Art Hoffnung, als möglichen Anfang für Frieden bewerteten. Nach den blutigen Angriffen auf Cherson um das westliche Weihnachtsfest, nach dem Massenbeschuss am Neujahrstag - dem wichtigsten Winterfeiertag in der Ukraine und in Russland - wirkte das so, als würden diese Leute sich mehr mit ihren persönlichen Illusionen beschäftigen als mit der Wirklichkeit.

Nur die Hardliner waren empört

Und das muss man Putin lassen: Ein großer Propaganda-Erfolg war seine Ankündigung zwar nicht, aber es war schon ein kluger Verwirrschritt, der den Kreml vergleichsweise wenig gekostet hat. Vielleicht abgesehen von der kurzen Empörung der eigenen Hardliner, die nicht wahrhaben wollten, dass Russland für 36 Stunden zu kämpfen aufhören könnte, während es in Soledar bei Bachmut etwas vorankommt. Der sogenannte Waffenstillstand hat dieses Vorankommen aber nicht gestoppt.

Trotzdem bleibt ein solches "Angebot" sicher im Kopf von einigen Menschen im Westen hängen, die daran glauben wollen, dass Putin aktuell wirklich Interesse am Frieden hat. Bei Menschen, die überzeugt sind, dass der damalige britische Premierminister Boris Johnson Kiew im April von der Unterzeichnung eines angeblich fertigen Friedensvertrages abgehalten hat. Und bei Menschen, die vollkommen ausblenden, dass Russland von der Ukraine vor jeglichen Verhandlungen fordert, die "neuen territorialen Realitäten" zu akzeptieren, obwohl Moskau keinen einzigen der vier ukrainischen Regierungsbezirke vollständig kontrolliert, die es im Herbst zu annektieren versuchte.

2023 steht für Putin im Zeichen des Kriegs

Schon seit Jahren basiert die russische Kommunikation auf maximaler Verwirrung, auch nach innen, in Richtung der Russinnen und Russen. Gibt es irgendwo ein Problem, verbreitet der Kreml in der Regel nicht eine einzige Version der Ereignisse, sondern so viele wie möglich, damit die Öffentlichkeit möglichst nicht mehr auseinanderhalten kann, was stimmt und was nicht. Entsprechend hat Russland sich öffentlich auch widersprüchlich über seine Kriegsziele geäußert - und dabei versucht, den Eindruck zu erwecken, als würde die Ukraine ernsthafte Gesprächsangebote Moskaus ablehnen.

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Aber die Realität lässt sich nicht verändern, auch nicht vom Kreml. 2023, vielleicht sogar deutlich darüber hinaus, setzt Putin, der in seiner Neujahrsansprache nicht umsonst vor Soldaten stand, alles auf den Krieg - und zwar auf den richtig langen, bei dem Russland seinen Ressourcenvorteil gegenüber der Ukraine ausspielen kann. In Russland wird dafür längst eine faktische Kriegswirtschaft auf die Beine gestellt, und es gibt keine Zweifel, dass auf die erste Mobilmachungswelle im Herbst weitere folgen werden. Putin wird nicht aufhören, bis er aus dem Großteil der Ukraine zumindest einen Vasallenstaat macht, selbst wenn er zwischendurch taktisch pausieren muss.

Es gibt jedoch keine Garantie, dass seine Rechnung aufgeht, und hier sind die neuen von den USA, Deutschland und Frankreich koordinierten Waffenlieferungen ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung - obwohl es ebenfalls bereits an der Zeit ist, der Ukraine endlich auch westliche Kampfpanzer zu liefern. Natürlich ist die Unterstützung der wirtschaftlich fast zerschlagenen Ukraine nicht billig und generell ein Kraftakt. Doch es ist nicht nur für Kiew existenziell wichtig, dass Putin sich nicht durchsetzt. Andernfalls wäre der Preis für alle Beteiligten viel, viel höher.

Quelle: ntv.de

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