Politik

Referendum des Präsidenten Was für Tunesien auf dem Spiel steht

Mit dem Referendum will Kais Saied seine "neue Republik" legitimieren.

Mit dem Referendum will Kais Saied seine "neue Republik" legitimieren.

(Foto: picture alliance / AA)

Lange Zeit galt Tunesien als Vorbild einer demokratischen Transformation in der arabischen Welt. Nun stimmt das Land über einen Verfassungsentwurf ab, der den Weg zu einem diktatorischen Regime ebnen könnte.

An diesem Montag sind die Tunesier von ihrem Präsidenten Kais Saied dazu aufgerufen, per Referendum über eine neue Verfassung abzustimmen. Am Gründungstag der tunesischen Republik wird sich auch eines der wohl denkwürdigsten Ereignisse der jüngeren tunesischen Geschichte jähren: Vor einem Jahr hatte Saied in einem für Tunesier und ausländische Beobachter gleichermaßen überraschenden Schritt das Parlament suspendiert und den Premierminister und dessen Regierung kurzerhand entlassen. In den Folgemonaten löste der nunmehr per Dekret allein regierende tunesische Präsident schrittweise nicht nur die Gewaltenteilung auf.

Saied löste darüber hinaus den Obersten Justizrat und das Parlament auf, entließ Dutzende Richter und setzte die Verfassung von 2014 außer Kraft, die als Meilenstein für die arabische Welt gefeiert worden war. Lange Zeit galt Tunesien als Vorbild einer demokratischen Transformation, die zum Ausgangspunkt der Revolutionen und Aufstände der arabischen Welt ab 2011 wurde. Die auf die Euphorie folgenden Rückschläge und Brüche im Leuchtturm-Narrativ Tunesiens werden spätestens nach dem 25. Juli nicht mehr ignoriert werden können.

Der drastische Schritt des Präsidenten kam im letzten Sommer für viele zur rechten Zeit, auf Tunesiens Straßen wurde er euphorisch für seine Entschlossenheit gefeiert. Nicht nur befand sich das Land zu diesem Zeitpunkt schon längst in einer für jeden fühlbaren tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise, die durch die Folgen der Pandemie noch verschärft worden war. Gerade innenpolitisch sah zuletzt eine Mehrheit der Tunesier ihr Land in einer ausweglosen Sackgasse. Dessen demokratisches Erbe setzten viele zuletzt nur noch mit einer als korrumpiert verrufenen politischen Klasse gleich, deren erschreckende Handlungsunfähigkeit vor allem während der dramatischen Pandemiewochen deutlich wurde.

Nostalgie-Gefühle für den vertriebenen Herrscher

Saieds Programm begeisterte seit der Überraschungswahl des Polit-Newcomers im Oktober 2019 große Teile der Bevölkerung, vorneweg die Jugend. Er kündigte einen Kampf gegen Korruption und die politischen Eliten als deren vermeintlichen Urheber an sowie eine politische Tiefenreform für mehr direkte Demokratie, wählerwirksam verpackt in Sprache und Symbolaktionismus des Populismus. Wenige seiner Kritiker drangen mit ihrer Sorge um ein autoritäres Abdriften des Systems Saied durch. Dabei hatte sich durch das Ausbleiben der erhofften demokratischen Dividende ein enormer Erfolgs- und Lieferdruck auf die junge tunesische Demokratie in Form von wirtschaftlichem Niedergang und Politikverdrossenheit deutlich abgezeichnet. Teilweise war die Bevölkerung in eine ins Nostalgische verklärte Sehnsucht nach der Stabilität der Jahre vor 2011 unter der autoritären Herrschaft von Zine el-Abidine Ben Ali verfallen.

Am Montag sollen nun die Tunesier in Form eines Referendums über den Verfassungsentwurf abstimmen, den Kais Saied erst am 30. Juni der Öffentlichkeit vorstellte. Nur wenige Tage später meldete sich der Präsident erneut zu Wort und stellte eine korrigierte Version seines Verfassungsentwurfs vor. Auch wenn die Änderungen weniger inhaltlicher Natur waren als Wortkorrekturen, so ist das für viele Kritiker im Land ein weiterer Beleg dafür, dass nicht nur die Art und Weise der Referendumsdurchführung fraglich ist, sondern auch der Entwurf selbst: Im Verfassungsentwurf finden sich zahlreiche, zu Recht in Tunesien als rückständig und antidemokratisch kritisierte Elemente. Bezeichnenderweise distanzierte sich der eigens vom Präsidenten eingesetzte Leiter der Entwurfskommission nach der Veröffentlichung des Textes öffentlich davon. Der Entwurf habe "in keiner Weise" etwas mit der von der Kommission vorgelegten Version zu tun. Stattdessen attestierte er dem Entwurf "erhebliche Risiken und Mängel", mit der Möglichkeit "den Weg zu einem diktatorischen Regime" zu ebnen.

Unabhängigkeit der Justiz wird beendet

In der Tat ist der Entwurf vollständig auf den Präsidenten ausgerichtet. Zwar soll es weiterhin präsidentielle, parlamentarische und kommunale Wahlen geben. Doch sieht der Entwurf ein präsidentielles System vor, ohne größere Einschränkungen oder Rechenschaftspflichten. Checks and Balances: Fehlanzeige. Allein der Präsident ernennt die Regierung, auch kann er sie jederzeit wieder entlassen. Die Legislative, die nunmehr aus zwei Kammern - statt einer - bestehen soll, ohne dass ersichtlich wäre, wie diese zusammenarbeiten und welche Mitwirkung die neue Kammer der "Regionen und Provinzen" konkret übernehmen soll, kann er ebenfalls auflösen. Ohne Beteiligung anderer kann er Gesetzesvorschläge unterbreiten; etwa bei Haushaltsgesetzen ist er gar allein hierzu berechtigt. Zwar ist seine Amtszeit auf zwei Mal fünf Jahre begrenzt, doch auch diese kann ausnahmsweise verlängert werden.

Aufgehoben ist auch die Gewaltenteilung mit der Justiz. Zwar konnte das in der Verfassung von 2014 vorgesehene Verfassungsgericht nie entstehen, da es dem Parlament bis zu seiner Auflösung nicht gelang, die Verfassungsrichter zu nominieren. Im aktuellen Entwurf verliert das Verfassungsgericht jedoch deutlich an Befugnissen; auch ändert sich dessen Besetzung. Damit ernennt der Präsident jeden einzelnen Richter im Land.

Zwar bleiben die Grundfreiheiten der Verfassung von 2014 größtenteils bestehen. Nicht nur hier verweist der Entwurf jedoch des Öfteren auf das einfache Gesetz, etwa bei der konkreten Aufgabenbenennung des Obersten Justizrats oder der Kommunen. Die Einzelheiten sind somit (noch) unklar, vieles bleibt vage; die Bürger wissen größtenteils nicht, worüber sie abstimmen. Anders als zuvor gibt es weder eine Antikorruptionsbehörde noch eine Menschenrechtskommission.

Abkehr von säkularem Kurs?

Zuletzt wirft der Entwurf auch die Frage auf, welche Rolle der Islam im Staat spielen soll. Zuvor war die Religion des tunesischen Staates der Islam. Nunmehr sieht der Entwurf vor, dass "der Staat allein sich im Rahmen eines demokratischen Systems um die Verwirklichung der Ziele des Islams bemühen" muss. Was dies in der praktischen Konsequenz bedeutet, bleibt indes ungewiss, doch sorgte die Überarbeitung des Religions-Artikels für Verwunderung, galt Saied doch bislang als Säkularismus-Verfechter und entschiedener Gegner des Islamismus.

Doch neben dem Inhalt des Entwurfs wird vor allem auch der Verfassungsprozess kritisiert. Das Referendum widerspricht ausdrücklich der aktuellen Verfassung, welche für Verfassungsänderungen eine Beteiligung des Parlaments und des Verfassungsgerichts vorsieht. Der Prozess war, in seiner recht kurzen Zeit, weder inklusiv noch ausreichend partizipativ. Der Präsident verhinderte gar eine öffentliche Diskussion.

Auch wenn sich im Laufe der einjährigen Machtkonsolidierung Saieds bislang noch wenig Widerstand politischer Parteien, der Zivilgesellschaft, aber auch in der Bevölkerung insgesamt formiert hat und das Verfassungsexperiment Saieds weniger von der eigenen Erfolgsaussicht als vielmehr von der kollektiven negativen Demokratieerfahrung und den Mobilisierungsproblemen oppositioneller Kräfte profitiert: Tunesien zeigt sich vor dem Referendum, mit dem Saied seine "neue Republik" legitimieren will, mehr und mehr gespalten.

Ein schwarzer Tag

Bereits im Frühjahr hatte Präsident Saied ein Online-Referendum abhalten lassen, um in Vorbereitung der nun anstehenden Volksabstimmung den Dialog mit dem Volk und einen partizipativen Ansatz zu demonstrieren. Die Beteiligung der Tunesier war indes ernüchternd, mit nur rund sieben Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung. Auch wenn dieses Mal mit einer deutlich höheren Beteiligung zu rechnen ist - wovon aktuelle Umfragen mittlerweile ausgehen - steht das Land vor einer Zerreißprobe. Nicht nur bei schwacher Beteiligung wird langfristig ein nationaler Dialog unter Einbeziehung aller Akteure nötig sein, um eine Destabilisierung Tunesiens zu vermeiden.

Spätestens jetzt ist vielen in Tunesien klar, dass mit Verfassungsentwurf und Referendum die demokratische Transformation des Landes vorerst gestoppt wurde. Auch die überfälligen Reformen, die Sanierung von Staatshaushalt und Wirtschaft und damit eine langfristige Verbesserung der Lebensbedingungen vieler Tunesier scheinen weiter in weite Ferne gerückt. Die neue Verfassung geht kaum auf diese Themen ein. Dies könnte das neue System unter Kais Saied schnell in Erklärungsnot bringen, sollte es am Ende - genauso wie die Vorgängerregierungen - nicht liefern können.

Der systematische Abbau demokratischer Errungenschaften hat nicht nur den Weg in ein präsidentiell-autokratisches Regierungssystem geebnet, sondern auch die Skeptiker der Umsetzbarkeit der Demokratie in der gesamten arabischen Welt bestätigt. Tunesien droht mit den aktuellen Entwicklungen weiteres Konfliktpotential. Der 25. Juli verspricht - ungeachtet des Ausgangs der Volksabstimmung - für die tunesische Demokratie, ihre verbliebenen Verfechter in Tunesien und für ihre einstigen Bewunderer in der Region und in Europa ein schwarzer Tag zu werden.

Philipp Bremer ist Leiter des Rechtsstaatsprogramms Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Malte Gaier ist Leiter des KAS-Auslandsbüros Tunesien.

(Dieser Artikel wurde am Samstag, 23. Juli 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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