Seltener Appell an die Politik Russische Soldatenfrauen fordern ihre Männer zurück
01.07.2022, 19:25 Uhr
Nach Dagestan steht Burjatien auf Platz zwei auf der Liste der Herkunftsregionen der russischen Gefallenen.
(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)
Wer in Russland die eigenen Streitkräfte kritisiert, riskiert seine Freiheit. Dennoch prangern nun mehrere Angehörige der in der Ukraine kämpfenden Soldaten Missstände in der Armee öffentlich an. Dabei haben aber einige von ihnen nichts gegen die "Spezialoperation", wie sie den Krieg nennen.
In der russischen Teilrepublik Burjatien haben sich mehrere Frauen in einem Video-Appell an die Regionalverwaltung gewandt und die Rückkehr ihrer Männer aus der Ukraine gefordert. Die Soldaten seien im Januar zu "Übungen" nach Belarus geschickt worden und befänden sich derzeit in der Ukraine, sagten die Frauen im Video. "Sie nehmen seit dem 24. Februar an der Spezialoperation teil. Sie sind geistig und körperlich erschöpft." Nach Angaben der Frauen sind die Männer seit vier Monaten ununterbrochen im Einsatz, manche seien verletzt oder erkältet.
Wie das Nachrichtenportal "Sibir.Realii", sibirischer Ableger von Radio Liberty, berichtet, veröffentlichte Wera Partilhaewa, eine der Teilnehmerinnen der Aktion, das Video in sozialen Netzwerken. "Das Fernsehen macht diesen Skandal nicht publik! Alle haben Angst, es wurde befohlen, zu schweigen!", soll sie dazu laut dem Bericht geschrieben haben. Im Beitrag wandte sich die Frau auch an Burjatiens Regierungschef Alexey Tsydenow: "Der Tod eines jeden Soldaten in diesem ungerechten Krieg wird auf Ihrem Gewissen lasten! Wir fordern, dass unsere Söhne und Ehemänner nach Hause zurückkehren!" Der Beitrag ist inzwischen gelöscht worden, der Sender veröffentlichte aber das Video auf seiner Seite.
Im Appell ist von Soldaten der fünften Panzerbrigade der russischen Armee die Rede, die in der burjatischen Hauptstadt Ulan-Ude stationiert ist. Nach Partilhaewas Angaben sind in der Ukraine bereits mindestens 30 Soldaten dieser Brigade gefallen. Auf der Liste der Herkunftsregionen der russischen Gefallenen steht Burjatien auf Platz zwei hinter Dagestan. BBC Russian berichtet von mindestens 174 im Ukraine-Krieg getöteten Burjaten. Dabei handelt es sich aber ausschließlich um namentlich bekannte und von den Behörden bestätigte Opfer. Die tatsächliche Opferzahl dürfte viel höher liegen.
"Kein Interesse an der Politik"
"Unsere Männer haben Angst, vor ein Kriegsgericht gestellt oder entlassen zu werden", sagte eine der Frauen anonym in einem Interview mit Radio Liberty. "Sie sagen uns, dass sie selbst darüber entsetzt sind, wie sich die Spezialoperation in die Länge zieht und zu welchem Gemetzel sie geworden ist. Aber sie können sie nicht aufhalten - sie werden bedroht", erklärte die Frau im Interview.
Einige der Frauen gaben im Gespräch mit dem Sender an, nicht über die Gründe der "Spezialoperation" nachzudenken, weil sie "kein Interesse an der Politik haben". Sie bäten lediglich darum, ihre Männer aufgrund von "Müdigkeit und Krankheiten" durch andere Soldaten zu ersetzen, hieß es im Bericht.
Aus einer "Übung" wird ein echter Krieg
Andere Frauen sind dagegen grundsätzlich gegen den russischen Angriff und erklären, ihre Männer hätten nicht gewusst, dass sie in den Krieg ziehen würden. "Mein Bruder war bei einer 'Übung', er meldete sich nicht für einen Krieg gegen ein anderes Land", sagte eine der Teilnehmerinnen der Aktion. "In Wirklichkeit wurde er getäuscht und erst am Vorabend des Einmarsches darüber informiert, dass sie die Grenze überqueren werden. Er rief aus Belarus an und beklagte sich darüber, dass 'sie ihm die Arme verdrehten'. Ich habe das so verstanden, dass er Angst hatte zu fliehen, weil ihm offenbar nicht nur ein Kriegsgericht, sondern auch körperliche Gewalt angedroht wurde."
Dass russische Soldaten oder deren Angehörige sich öffentlich über die Zustände in der Armee beschweren oder gar den Angriff auf die Ukraine kritisieren, kommt äußerst selten vor. Einige der Frauen sagten im Interview, sie hätten sich in ihrem Video anstatt an die Regionalregierung lieber direkt an Russlands Präsident Wladimir Putin gewandt. Doch wegen des neuen Gesetzes gegen die "Diskreditierung der russischen Streitkräfte" hätten sie Angst vor dem Schritt. Das Gesetz, das Anfang März verabschiedet wurde, sieht lange Haftstrafen für die Veröffentlichung von "Falschnachrichten" über die russische Armee vor.
Quelle: ntv.de, uzh