Einfallstor für Russland Warum die NATO die Suwalki-Lücke fürchtet
01.07.2022, 11:31 Uhr
Polen und Litauen haben eine 100 Kilometer lange Grenze, die Suwalki-Lücke zwischen Kaliningrad und Belarus.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist das Baltikum besorgt. Litauen, Lettland und Estland fürchten, sie könnten das nächste Ziel von Putins Truppen werden. Ein Angriff würde den NATO-Bündnisfall auslösen, doch militärstrategisch ist die Lage heikel, denn das Baltikum grenzt an den "gefährlichsten Ort der Welt".
Gefährlichster Ort der Welt, Achillesferse der NATO, Einfallstor für Russland. Mit diesen Worten wird die Suwalki-Lücke bezeichnet. Hier trifft die westliche Welt auf den russischen Einflussbereich. Der Korridor trennt Belarus vom westlichsten Zipfel Russlands: Kaliningrad.
Die russische Exklave liegt weniger als 400 Kilometer Luftlinie von Deutschland entfernt zwischen Polen und Litauen. Seit die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland 1991 unabhängig wurden, ist Kaliningrad vom russischen Mutterstaat getrennt. Kaliningrad, so heißen Provinz und Hauptstadt der Region, ist komplett umschlossen von anderen Ländern. Im Süden liegt Polen, im Norden und Osten Litauen, im Westen die Ostsee. Es gibt keine Landverbindung nach Russland.
Das war in den vergangenen drei Jahrzehnten kein großes Problem, doch Russlands Angriff auf die Ukraine hat die Lage verändert. Litauen als EU- und NATO-Mitglied blockiert seit dem 17. Juni teilweise den Transitverkehr von russischen Gütern nach Kaliningrad. Baumaterialien, Stahl, Metalle, Kohle - all das kann der Mutterstaat nicht mehr oder kaum in die Exklave liefern. Russische Lkw und Güterzüge werden an der litauischen Grenze gestoppt. Der Gouverneur der Exklave meint, dass etwa die Hälfte der russischen Exporte vom Transitverbot betroffen sind.
Der baltische Staat sagt, man blockiere nur Güter und Personen, die auf der Sanktionsliste der EU stehen. Doch Russland wertet die Teilblockade als "illegalen" und "feindlichen" Akt. Die ohnehin angespannte Lage zwischen Russland und dem Westen könnte in der Kaliningrad-Frage eskalieren, warnen Beobachter.
Teilblockade soll aufgehoben werden
Um die Lage zu entschärfen, haben Vertreter der EU mit Litauen über das Aussetzen der Teilblockade verhandelt. Laut des "Spiegels" will die EU-Kommission Kaliningrad in den nächsten Tagen eine Sonderrolle geben. Demnach soll Russland in Zukunft auch sanktionierte Güter wieder in die Exklave liefern dürfen, aber nur so viel wie vor dem Krieg. Russland soll so daran gehindert werden, über Kaliningrad im großen Stil Produkte in andere Länder zu exportieren und EU-Sanktionen zu umgehen.
Damit haben sich die EU-Kommission und Staaten wie Deutschland in der komplizierten Rechtsfrage gegen Litauen durchgesetzt. Auch die Bundesregierung vertritt die Auffassung, dass der Transit von Russland nach Kaliningrad nicht unterbunden werden dürfe. Bundesaußenministerin Baerbock sagte in den ARD-"Tagesthemen", die Sanktionen seien von der Europäischen Union beschlossen und daher könne kein einzelner Staat entscheiden.
100 Kilometer Grenze, 65 Kilometer Luftlinie
Kaliningrad ist ungefähr so groß wie Schleswig-Holstein und es leben nur knapp 430.000 Menschen in der Region. Strategisch ist die Oblast für Russland trotzdem unheimlich wertvoll. Moskau hat das frühere Königsberg militärisch hochgerüstet. In Kaliningrad sind Iskander-Raketen stationiert, die mit Atombomben bestückt werden können. Ihre Reichweite beträgt etwa 500 Kilometer. Teile Deutschlands, Schwedens und ganz Polen wären mögliche Ziele.
Die Exklave ist aber noch aus einem anderen Grund strategisch wichtig für Russland: Sie grenzt an den Suwalki-Korridor. Eine kleine Lücke, die im Westen von Kaliningrad und im Osten von Belarus belauert wird. Die Grenze ist 100 Kilometer lang, 65 Kilometer Luftlinie. Sie ist die einzige Landverbindung zwischen Polen und den baltischen Staaten. "Die ist natürlich für die Verteidigung der baltischen Staaten unendlich wichtig, weil man auf dem Landweg nur über diesen schmalen Korridor Nachschub und Unterstützungsleistungen ins Baltikum bringen kann. Ansonsten müsste man über den Seeweg gehen oder über die Luft, und das ist unendlich schwieriger", erklärt Brigadegeneral a.D. Erich Vad bei ntv.
Russland könnte Baltikum von EU und NATO abschneiden
Die Suwalki-Lücke ist die geografische Schwachstelle der NATO. Auch Bernd Schütt sieht die größte Gefahr für eine militärische Eskalation zwischen der NATO und Russland an der Nordostflanke. Im Bereich zwischen Litauen und Belarus könne man "relativ schnell Truppen verlegen und zum Beispiel unter Einsatz von Luftlandetruppen einen ersten Stoß durchführen", erklärt der neue Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr. Innerhalb von nur 30 bis 60 Stunden könnte Russland mit Truppen aus dem Osten und Westen in den Suwalki-Korridor eindringen und die Landverbindung abriegeln, schätzen Militärexperten. Das Baltikum wäre dann vom Rest der EU und den übrigen NATO-Verbündeten in Europa abgeschnitten.
Wie brisant die Situation für Litauen ist, zeigen auch Äußerungen aus der russischen Staatsduma. Jewgeni Fjodorow, Abgeordneter von der Putin-Partei "Einiges Russland", hat im russischen Parlament gefordert, die Souveränität Litauens abzuerkennen. Das Dekret, das die Unabhängigkeit des baltischen Staates anerkennt, sei rechtswidrig. Der Antrag des rechtsextremen Putin-Hardliners hat zwar kaum Erfolgschancen, macht aber deutlich, dass die Sorgen des Baltikums berechtigt sind.
Aber Litauen, Lettland und Estland sind Teil der NATO, das unterscheidet sie von der Ukraine. Im Falle eines russischen Angriffs würde der Bündnisfall eintreten. Ein Angriff auf ein NATO-Land wird als Angriff auf alle gewertet. Die anderen 27 NATO-Länder müssten das Baltikum verteidigen gegen Russland - der mögliche Startschuss für einen Dritten Weltkrieg.
Im Moment hat Russland nach Einschätzung von Militärexperte Carlo Masala aber keine Kapazitäten für eine Invasion des Baltikums. Putins Streitkräfte seien in der Ukraine gebunden, so der Militärexperte von der Universität der Bundeswehr München im "Stern"-Podcast "Ukraine - die Lage". "Ich sehe nicht, wie Russland plötzlich in der Lage sein sollte, eine substanzielle zweite Front zu eröffnen."
Mehr Soldaten für die NATO-Nordostflanke
Die Gefahr aber bleibt: Die Suwalki-Lücke ist ein willkommenes Einfallstor für Putins Truppen. In einem aktuellen Bericht des US-Magazins "Politico" ist von einem "verlassenen Grenzposten die Rede". Der Reporter habe "auf einer eintägigen Reise durch die litauische Seite des Suwalki-Korridors kein einziges Militärfahrzeug oder einen Soldaten gesehen", heißt es weiter.
Unter anderem Bundeswehr-General Schütt plädiert deshalb für mehr Soldaten an der NATO-Nordostflanke. Es brauche "glaubwürdige Abschreckung" durch eine große Zahl an Streitkräften an der Suwalki-Lücke, fordert er.
Derzeit sind in Litauen zum Beispiel nur 1600 NATO-Soldaten permanent stationiert, 1000 davon aus Deutschland. Die NATO hat auf ihrem Gipfeltreffen in Madrid beschlossen, auf Brigade-Niveau aufzustocken. Eine Brigade besteht in der Regel aus 3000 bis 5000 Soldaten. Sie sollen helfen, den Suwalki-Korridor oder wie ihn "Politico" nennt, den "gefährlichsten Ort der Welt", ein bisschen sicherer zu machen.
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.
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Quelle: ntv.de