Politik

Bericht über Ukraine-Krieg Russischer Soldat schildert Chaos in Putins Armee

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Ende Februar überfielen Zehntausende russische Soldaten die Ukraine. Pawel Filatjew war einer davon.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Als Russland am 24. Februar die Ukraine überfällt, ist auch der Fallschirmjäger Pawel Filatjew dabei. Seine Einheit greift das Nachbarland von der Krim aus an. Nach zwei Monaten Krieg schreibt der 34-Jährige seine Erfahrungen an der Front nieder - und übt scharfe Kritik am Zustand der eigenen Armee.

Am Morgen des 24. Februar gehört Pawel Filatjew zu jenen russischen Einheiten, die von der annektierten Halbinsel Krim aus die Ukraine angreifen. Der 34-Jährige ist Fallschirmjäger, sein Regiment beteiligt sich zunächst an der Erstürmung Chersons. Später versuchen die Truppen, Mykolajiw einzunehmen - und scheitern. Die Großstadt in der Südukraine ist bis heute hart umkämpft.

Nach insgesamt zwei Monaten ist der Krieg für Filatjew beendet: Er wird wegen einer schweren Augeninfektion aus der Ukraine evakuiert. Der Soldat beginnt, seine Erlebnisse an der Front aufzuschreiben. Anfang August veröffentlichte er den 141-seitigen Aufsatz "ZOV" - benannt nach den taktischen Markierungen auf russischen Armeefahrzeugen. Er erscheint zunächst im sozialen Netzwerk vk.com, der russischen Facebook-Alternative.

Danach versteckt sich Filatjew zwei Wochen lang in Russland, bevor er schließlich das Land verlassen kann. Er befürchtet eine Verfolgung durch die Behörden. Denn sein Bericht hat es in sich: Er kritisiert darin scharf das Vorgehen der eigenen Armee und spricht sich auch gegen den Krieg aus, der in Russland nur "Spezialoperation" genannt werden darf.

"Ich weiß nicht, wie man das beenden kann"

"Wir hatten kein moralisches Recht, ein anderes Land anzugreifen, schon gar nicht das Volk, das uns am nächsten steht." So erklärt Filatjew in seinem Text den Hauptgrund für die Misserfolge der russischen Armee. Und dennoch war er zwei Monate lang Teil der Aggression gegen das Nachbarland. "Ich werde oft gefragt, warum ich meine Waffe nicht weggeworfen habe. Nun, ich bin gegen diesen Krieg, aber ich bin kein General, ich bin nicht der Verteidigungsminister, ich bin nicht Putin - ich weiß nicht, wie man das beenden kann", sagte der 34-Jährige in einem Interview mit der britischen "Guardian" kurz vor seiner Flucht aus Russland. Der Zeitung liegen nach eigenen Angaben Unterlagen vor, die belegen, dass Filatjew tatsächlich als Fallschirmjäger in einer Einheit auf der Krim gedient und an der "Spezialoperation" in der Ukraine teilgenommen hat. Seine Geschichte lässt sich jedoch nicht unabhängig überprüfen."Es hätte nichts gebracht, ein Feigling zu werden, meine Waffe wegzuwerfen und meine Kameraden im Stich zu lassen", ergänzte Filatjew.

Stattdessen hat er nun den Bericht geschrieben. "Und ich will, dass es in russischer Sprache und frei verfügbar ist, damit jeder, wer den Krieg unterstützt, lesen kann, was ich im letzten Jahr erlebt habe", sagte er dem Portal "Mediazona".

"Keine Lust, in diesem Reich des Wahnsinns zu dienen"

In "ZOV" erzählt Filatjew, der in den späten 2000er-Jahren bereits in Tschetschenien diente, wie er vor rund einem Jahr aus finanziellen Gründen beschlossen hat, in die Armee zurückzukehren. Demnach wurde er auf die Krim geschickt und dort mit "völliger Anarchie und fehlender Kampfbereitschaft in einem strategisch so wichtigen Gebiet" konfrontiert. Filatjew bemängelt fehlende Ausrüstung und Uniformen in seiner Einheit. Er habe sich passende Schuhe und Uniformteile selbst kaufen müssen, schreibt er in seinem Bericht.

Nach einer Beschwerde beim Verteidigungsministerium hätten seine Kommandeure ein Verfahren gegen ihn eingeleitet, in dem ihm regelmäßige Störungen der Disziplin vorgeworfen worden seien. "Nach der Antwort des Verteidigungsministeriums auf meine Beschwerde, in der man mir eine gute Gesundheit wünschte und mir riet, auf meine eigene Disziplin zu achten, hatte ich keine Lust mehr, in diesem Reich des Wahnsinns zu dienen", schreibt Filatjew.

Mitte Februar sei Filatjews Einheit dann zu einer Militärübung auf einen Schießplatz im Süden der Krim geschickt worden. Die Fallschirmjäger lebten dabei laut Filatjew zu vierzig in einem Zelt. Einige hätten keinen Schlafsack, keinen Tarnanzug, keine Rüstung oder keinen Helm gehabt. Es habe keine Duschen gegeben, also hätten sich die Männer im kalten Meer gewaschen. "Infolgedessen wurden die Krankenhäuser bereits im Februar überfüllt, und dann kam sogar ein Befehl, dass Krankenhauseinweisungen verboten sind", heißt es in Filatjews Bericht. Auf dem Schießplatz habe der Mann zum ersten Mal sein Maschinengewehr bekommen, dieses sei jedoch verrostet und nach wenigen Schüssen defekt gewesen.

"Damit wurde klar, dass wir die Ukraine angegriffen haben"

Am 20. Februar seien die Soldaten nach Armjansk an der Grenze zur Ukraine verlegt worden, schreibt Filatjew weiter. "Niemand verstand wirklich, was vor sich ging, alle rätselten." Zu diesem Zeitpunkt hätten einige der Soldaten bereits seit einem Monat in Zelten gelebt, ohne jeden Komfort. Sie seien müde und demotiviert gewesen. Alle hätten gehofft, dass die Übungen bald vorbei sind. Doch es kam anders: Am Vortag der Invasion habe der Divisionskommandeur mitgeteilt, dass "der Tageslohn ab morgen 69 Dollar betragen würde. Das war ein klares Zeichen dafür, dass etwas Ernstes passieren wird."

Doch was genau ansteht, wurde Filatjew nach eigenen Worten erst am nächsten Tag klar. Am 24. Februar sei er um zwei Uhr nachts auf der Ladefläche eines Militär-Lkws aufgewacht, der in einer Kolonne Richtung Norden fuhr. "Rechts und links von unserer Kolonne war die Raketenartillerie aktiv. Ich konnte nicht verstehen: Schossen wir auf die vorrückenden Ukrainer? Oder auf die NATO? Oder haben wir angegriffen? Gegen wen richtet sich dieser höllische Beschuss?", erinnert sich der 34-Jährige an die ersten Stunden der Invasion. Erst später habe er erfahren, dass seine Einheit den Befehl bekommen habe, nach Cherson zu fahren. "Damit wurde klar, dass wir die Ukraine angegriffen haben."

Filatjew schildert in seinem Bericht das Chaos, das in den ersten Tagen des Krieges unter den Besatzern herrschte. So wurde nach seinen Worten eine der Kolonnen, die ebenfalls in Richtung Cherson unterwegs war, fälschlicherweise von eigenen Truppen beschossen. Es habe viele Tote und Verletzte gegeben. "Wer übernimmt die Verantwortung für diese Opfer?", fragt er. "Schließlich war nicht die Professionalität der ukrainischen Armee daran schuld, sondern das Chaos in unserer eigenen."

"Es entsteht eine gewisse Wut auf die Zivilbevölkerung"

In den Siedlungen auf dem Weg nach Cherson seien Filatjew die vielen ukrainischen Flaggen aufgefallen, die über den Wohnhäusern wehten. Diese "erweckten gemischte Gefühle des Respekts für den mutigen Patriotismus dieser Menschen einerseits". Andererseits "gehören diese Farben nun zu dem Feind, die Leute demonstrierten so, dass wir nicht willkommen sind". Es habe ein Gefühl der Gefahr geherrscht, "die von diesen Häusern ausgeht". Der 34-Jährige schreibt, er sei jederzeit bereit gewesen, zu schießen, wäre die Gefahr konkreter geworden. "Es entsteht eine gewisse Wut auf die Zivilbevölkerung. Ich verstehe, dass wir hier ungebetene Gäste sind, aber zu ihrer eigenen Sicherheit sollten sie sich besser von uns fernhalten", schreibt Filatjew.

Wenige Tage nach der Einnahme Chersons habe Filatjews Einheit erfahren, dass sie zur Erstürmung Mykolajiws und später auch Odessas geschickt werden soll, heißt es im Text weiter. "Ich konnte es nicht glauben: Merken die da oben nicht, dass die Leute erschöpft sind?" Später hätten sie den Grund erfahren, warum sie keine Zeit zum Ausruhen bekamen: In einer anderen Einheit sollen sich die Soldaten massenhaft geweigert haben, zu kämpfen. "Es entsteht Wut auf die Verweigerer", beschreibt der Fallschirmjäger seine Gefühle. Dem Beispiel zu folgen und die Waffen niederzulegen, kam für Filatjew nicht in Frage: "Die meisten Soldaten wollen niemanden töten, geschweige denn einen Krieg führen. Aber wir sind durch Patriotismus, Gesetze und Schuldgefühle mit unseren Kameraden verbunden, niemand will ein Feigling sein. Wir können unsere Waffen nicht fallen lassen und weglaufen."

Außerdem habe man aufgrund fehlender Informationen nicht gewusst, wie die Lage an der Front und überhaupt auf der Welt ist. "In den ersten zwei Monaten hatten wir praktisch keinen Kontakt zur Außenwelt und lebten in unserer eigenen Welt, im Krieg, wo wir zusätzlich zu den unmenschlichen Bedingungen - dem Mangel an Nahrung, Wasser, Schlaf, warmer Kleidung - auch an Informationshunger litten, den wir nur mit Gerüchten stillen konnten", schreibt Filatjew.

"Wenn ich überlebe, werde ich alles tun, um das zu ändern!"

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Einige der Soldaten hätten sich selbst in die Arme und Beine geschossen, um eine Entschädigung zu bekommen und "aus dieser Hölle zu entkommen", erzählt Filantjew in seinem Bericht. In den Wochen, bevor er wegen seiner Augeninfektion zurück nach Russland geschickt wurde, seien "alle in der Umgebung immer wütender geworden". Einem Gefangenen seien Finger und Genitalien abgeschnitten worden, schreibt der Fallschirmjäger, ohne das konkreter zu erläutern.

Bei jedem Raketenbeschuss habe Filatjew den Gedanken gehabt: "Gott, wenn ich überlebe, werde ich alles tun, um das zu ändern! Ich weiß nicht, wie, aber ich will, dass alle, die für die Pannen und das Chaos in unserer Armee verantwortlich sind, bestraft werden."

Quelle: ntv.de

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