
In Kiew musste die Feuerwehr ausrücken, um Brände infolge der russischen Angriffe zu löschen. Anders als in Lwiw und Cherson gab es in der Hauptstadt zwar Verletzte, aber keine Todesopfer.
(Foto: REUTERS)
Die nächtlichen russischen Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine gehören zu den heftigsten seit Kriegsbeginn. Das betrifft nicht nur die Menge der eingesetzten Raketen, sondern auch ihre Zusammensetzung.
Die massiven Raketenangriffe Russlands gegen die ukrainische Energieinfrastruktur, die im letzten Oktober angefangen haben, gingen lange mit der gleichen Intensität weiter wie zu Beginn, auch wenn in Deutschland etwas weniger darüber berichtet wurde - in der Ukraine wurden sie zu einer Art kranken Alltagsnormalität. Etwa alle sieben bis vierzehn Tage griffen die russischen Streitkräfte mit durchschnittlich 50 bis 60 Raketen Energieanlagen in der gesamten Ukraine an. Trotzdem schaffte die Ukraine es ab Anfang Februar, die Stromlage weitestgehend zu stabilisieren. Bis zur vergangenen Nacht erlebte das Land 25 Tage fast ohne Stromabschaltungen.
Der letzte große russische Beschuss fand am 10. Februar statt. Danach gab es zwar ab und zu kleinere Angriffe, die Ziele hatten aber meist mit Energieobjekten wenig zu tun. Und langsam gewann man den Eindruck, als hätten die Russen ihre Strategie endlich aufgegeben.
Russland hat die schweren Raketenangriffe auf die Ukraine als Reaktion auf Gefechte in der russischen Grenzregion Brjansk gerechtfertigt. "Als Antwort auf die am 2. März vom Kiewer Regime organisierten Terrorakte im Gebiet Brjansk haben die russischen Streitkräfte einen massiven Racheschlag geführt", sagt der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow. Am 2. März hatten die russischen Behörden behauptet, eine ukrainische Sabotagegruppe sei auf russisches Gebiet eingedrungen und habe dort zwei Zivilisten getötet. Putin sprach von einem "Terroranschlag".
Charkiw komplett ohne Strom
Natürlich sind die Zerstörungen im ukrainischen Stromnetz enorm, doch die Temperaturen stiegen und der komplette Zusammenbruch des Energiesystems wurde immer unwahrscheinlicher. Auch der von Russland sicherlich erhoffte neue Flüchtlingsstrom in die EU blieb aus, und ebenso wenig gab es eine Erschöpfung der ukrainischen Flugabwehr - jedenfalls nicht so, wie man es sich in Moskau wohl vorgestellt hatte.
Dann kam die Nacht vom 8. auf den 9. März. Fast sieben Stunden lang dauerte der Luftalarm in Kiew, der längste Alarm in der ukrainischen Hauptstadt bisher in diesem Krieg. Auch von Explosionen am frühen Morgen wurde die Bevölkerung geweckt. Teils rührten diese von der Flugabwehr, aber es gab auch einen lauten Treffer auf ein Wärmekraftwerk. Ähnliche Objekte wurden im ganzen Land angegriffen: von Bezirken wie Lwiw und Iwano-Frankiwsk tief im Westen bis nach Charkiw im Osten. Die zweitgrößte Stadt des Landes ist vorerst komplett ohne Strom, Heizung und Leitungswasser. In mehreren Regionen gab es zivile Tote.
Auch eine gute Nachricht
Nicht nur mit Blick auf die Dauer des Luftalarms war dies einer der heftigsten Angriffe seit Kriegsbeginn. Dabei geht es gar nicht um die überdurchschnittlich hohe Zahl von 81 Raketen und acht Drohnen, die nach ersten offiziellen ukrainischen Angaben gegen das Land eingesetzt wurden. Neu war, dass Russland zum ersten Mal so viele unterschiedliche Raketenarten aus vielen unterschiedlichen Richtungen gleichzeitig eingesetzt hat. Für die ukrainische Flugabwehr war dies eine Mammutaufgabe.
Die hat sie im Rahmen des Möglichen gut gemeistert. Bei den üblichen Marschflugkörpern der Klasse Ch-101/Ch-555 wurden 34 von 48 Raketen abgefangen, was zuletzt eine typische Quote war - am Beginn der Angriffe lag sie niedriger. Doch die Russen haben zum Beispiel auch jeweils sechs der seltenen Hyperschallraketen "Kinschal" und ältere sowjetische Ch-22 eingesetzt, die von der bisher vorhandenen Flugabwehr technisch nicht abgefangen werden können. Ausgerechnet eine Kinschal schlug in Kiew ein. Die Zahl von insgesamt sechs Kinschal-Raketen war ebenfalls ein Novum: Russland hat diese Rakete vorher nur stückweise eingesetzt. Sehr viele davon dürfte der Kreml nicht zur Verfügung haben.
So schlecht wie es sich anhört, liegt hier auch zum Teil eine gute Nachricht. Dass Russland so viele Kinschal-Raketen auf einmal einsetzte, ist wohl auch eine Folge davon, dass die durch westliche Lieferungen verstärkte ukrainische Flugabwehr reguläre Marschflugkörper viel besser als vorher abschießt. Das zeigt sich sehr gut am Beispiel Kiews. Es ist die zweite Kinschal, die in diesem Jahr in der ukrainischen Hauptstadt einschlug. Darüber hinaus gab es einen Treffer mit der im Boden-Boden-Modus eingesetzten ursprünglichen Flugabwehrrakete S-400, die auf diesem Weg eine ballistische Flugbahn hat und ebenfalls kaum abzuschießen ist.
Flugabwehr rettet Menschenleben
Normale Marschflugkörper haben in Kiew aber ein extrem schweres, mittlerweile fast unmögliches Spiel - auch wegen des sowohl von Präsident Wolodymyr Selenskyj als auch von Bürgermeister Vitali Klitschko mehrfach gelobten deutschen Flugabwehrsystems IRIS-T, das in der Hauptstadt eingesetzt wird. Deutschland hat bisher die Lieferung von vier solchen Systemen zugesagt. Um eine Großstadt zu schützen, bräuchte es aber viele Systeme, und auch sonst beträgt die Reichweite von IRIS-T maximal 40 Kilometer.
Die ganze Ukraine, das größte vollständig in Europa liegende Land, effektiv mit moderner Flugabwehr abzudecken, ist daher schwierig, zumal die Produktion der Flugabwehrsysteme in Europa in den letzten Jahrzehnten nachgelassen hat. Jede neue Lieferung rettet aber ganz konkret Menschenleben in der Ukraine und verringert den Schaden für die Energieinfrastruktur des Landes.
Dass die Angriffe allen Hoffnungen zum Trotz wohl nicht zeitnah aufhören werden, hat dieser Donnerstag gezeigt. Es wird längerfristig so bleiben, dass es zivile Tote und von Russland zerstörte Energieobjekte geben wird. Denn US-amerikanische Patriot-Systeme sind auch gegen ballistische Raketen kein absolut zuverlässiger Schutz. Gegen Raketen wie die Kinschal würden moderne westliche Kampfflugzeuge helfen, die auch generell die Flugabwehr stärken würden. Raketen werden weiterhin durchkommen und Ziele in der Ukraine treffen. Doch je mehr Unterstützung die Ukraine bekommt, desto einfacher ist es für Kiew, den schwierigen Spagat zwischen der Stationierung der Flugabwehr in der Nähe der Front und dem Schutz der Großstädte und wichtiger Infrastrukturobjekte zu meistern.
Quelle: ntv.de