Abschied von Hollywood Russland strebt radikalen Kulturwandel an
16.08.2022, 10:37 Uhr
Nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine haben zahlreiche Künstler Russland verlassen.
(Foto: picture alliance / Eibner-Pressefoto)
Aus für US-Blockbuster, Rock'n'Roll und griechische Götter: Unter der Führung von Präsident Putin vollzieht Russland eine radikale Abkehr von der westlichen Kultur- und Wertegemeinschaft. Kremltreue Künstler, Musiker und Filmemacher arbeiten an einer "konservativen Revolution".
Nach Jahren des pro-westlichen Liberalismus vollzieht sich in Russland eine kulturelle Zeitenwende. Künstler und andere Kulturschaffende, die sich nach dem Angriff auf die Ukraine noch in Russland befinden, stehen unter wachsendem Druck, die vom Kreml gewünschte Rückkehr zu den konservativen Wurzeln des Landes zu unterstützen.
Der russische Kinostar Sergej Besrukow liegt dabei offenbar ganz auf der Linie des Kreml. Er zeigt sich davon überzeugt, dass die Welt genug habe von "liberalen Werten". Russlands Militäreinsatz in der Ukraine und die westlichen Sanktionen gegen sein Land können seiner Ansicht nach dabei helfen, dass die russische Kultur endlich wieder ihren eigenen Weg geht - mit konservativen Werten, Patriotismus und dem orthodoxen Glauben.
"Wir müssen die Isolation nutzen, um uns wieder mit unseren Traditionen zu verbinden", sagt Besrukow, der einer der beliebtesten Künstler Russlands ist. Anstatt zu Hollywood aufzublicken, sollte Russland seine eigene Kultur aufbauen. Er plädiert dafür, die russische Kultur von westlichem Einfluss zu säubern.
"Seit 30 Jahren leben wir im Marvel-Universum", sagt der 48-jährige Schauspieler und Regisseur mit Blick auf die US-Filmindustrie. "Es ist an der Zeit, unser eigenes zu schaffen", fordert Besrukow am Moskauer Gubernskij-Theater, wo er künstlerischer Leiter ist. "In die Zeiten der UdSSR zurückzukehren, ist unmöglich, aber wir können versuchen, das Vertrauen in Russland wiederherzustellen", fügt er hinzu. Von der Europäischen Union wurde Besrukow kürzlich wegen seiner Unterstützung des russischen Überfalls auf die Ukraine mit Sanktionen belegt.
Konservative Werte auf dem Vormarsch
Schon in der Vergangenheit hat sich Kreml-Chef Wladimir Putin, selbst geschieden von seiner Ehefrau, stets als Hüter traditioneller Werte wie der Ehe zwischen Mann und Frau sowie der Religion ausgegeben und betont, dass westliche liberale Werte obsolet geworden seien. Seit dem Beginn des Kriegs Moskaus in der Ukraine haben die Behörden ihre Bemühungen verdoppelt, mit westlichen Werten zu brechen - und viele Künstler sagen, dass die Kunst dabei die Hauptrolle spielen sollte. "Russland steht an der Schwelle zu einer konservativen Revolution", sagt der Theaterproduzent und Regisseur Eduard Bojakow, der sich für den "heiligen Krieg" Russlands in der Ukraine einsetzt, wie er es nennt.
Nach Beginn des Kriegs in der Ukraine Ende Februar verließen zahlreiche Künstler Russland, darunter der Regisseur Kyrill Serebrennikow und die Schauspielerin Schulpan Chamatowa. Diejenigen, die noch im Land sind, stehen unter wachsendem Druck, den Überfall auf die Ukraine zu unterstützen. Viele Kremlgegner können in Russland nicht mehr auftreten.
"Seit Februar wurden mehr als hundert Musikaufführungen abgesagt", sagt Alexej Kosin, Direktor von Navigator Records, einem großen russischen Musiklabel, das sich auf Rock spezialisiert hat. Eine inoffizielle "schwarze Liste" bestehe derzeit aus rund 40 Namen, darunter Jurij Schewtschuk, ein legendärer Rockmusiker, der den Kreml während eines Konzerts im Mai beschuldigte, junge Russen und Ukrainer zu "töten".
"Schwarze" und "weiße" Künstlerlisten
Ende Juli forderte der Vorsitzende der kremlfreundlichen Partei "Gerechtes Russland", Sergej Mironow, eine "weiße Liste patriotischer Künstler", um der Öffentlichkeit zu erklären, "wer in der russischen Kunst heute wer ist".
Im Juni kündigten die Moskauer Behörden einen Austausch der Führung in drei der besten Theater der Hauptstadt an. Das Gogol-Zentrum, von Serebrennikow zu einer Bastion künstlerischer Freiheit ausgebaut, wurde geschlossen. Hinzu kamen Absagen von Ausstellungen. "Inmitten des Krieges in der Ukraine findet in Russland eine Kulturrevolution statt", warnt die im Exil lebende Chefredakteurin der Zeitschrift "Teatr", Marina Dawidowa, in den sozialen Netzwerken.
Auch Olga Andrejewa von der russischen konservativen Wochenzeitung "Expert" konstatiert eine "Revolution". "Dies ist der Moment der Wahrheit auf Russlands Weg im ewigen Kampf zwischen Westlern und Slawophilen", sagt sie.
Putin gibt dabei den Ton vor: Im März forderte er die "Selbstreinigung" der Gesellschaft und sagte, die Russen würden "Gesindel und Verräter" ausspucken, die in Russland ihr Geld verdienten, aber lieber nach westlichem Stil lebten. Als Symbol dieser Kehrtwendung ziert den neuen 100-Rubel-Schein seit Ende Juni das Denkmal des unbekannten Soldaten. Vorher war dort der griechische Gott der Künste, Apollon, am Giebel des Bolschoi-Theaters abgebildet.
Quelle: ntv.de, bek/AFP