SPD-Chef besucht die Lausitz In Deutschlands Osten brodelt's gewaltig


Industriebrachen prägen das Stadtbild von Forst.
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Der SPD-Erfolg im Osten war ein Schlüssel für Scholz' Kanzlerschaft. Doch die Stimmung ist gekippt, die AfD auf dem Vormarsch. Der SPD-Vorsitzende Klingbeil bekommt bei einem Besuch in der Lausitz zu spüren, wie groß die Enttäuschung von der Politik ist - und will erst recht dagegenhalten.
In der Stadt Forst, im äußersten Südosten Brandenburgs, hat wieder ein Geschäft geschlossen. Mehrere Zettel in und um den alten, schmucklosen Bahnhof informieren darüber, dass der Bahntickets verkaufende Reiseshop dicht mache. Schuld sei die "verfehlte Bundespolitik" mit ihrem online zu erwerbenden 49-Euro-Ticket und das "Desinteresse" der Stadt am Fortbestand des Geschäfts. Sieben Wochen nach Geschäftsaufgabe hat die Zettel noch niemand abgenommen. SPD-Chef Lars Klingbeil, der an einem Dienstagabend in Forst das Bürgergespräch sucht, bekommt den Klagebrief in seinem Dienstwagen nicht zu sehen.

Das alte Forst wurde im Zweiten Weltkrieg stark zerstört. Doch nur wenige Altbauten sind in so gutem Zustand wie rund um die Stadtkirche.
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Ohnehin fallen Bekanntmachungen wie jene am Bahnhof kaum auf am einstigen Textilproduktionsort Forst, wo Industriebrachen verfallen, Wohnungen und Ladenflächen leer stehen. Am Eingang des geschlossenen Metzgers hängt so ein verbitterter Abschiedsbrief schon seit 2012. Hier in der Lausitz haben schon viele aufgegeben, sind wegen besserer Perspektiven weggezogen oder schlicht gestorben. Von 26.000 auf 18.000 Einwohner ist die Stadt seit der Wiedervereinigung geschrumpft. Die Lausitz könnte einer der Orte sein, an denen im drastischsten Fall das Sterben der deutschen Demokratie beginnt. Sie ist aber auch eine Region der Chancen, wo die neuen Wirtschaftszweige einer klimaneutral wirtschaftenden Industrienation entstehen - und mit ihnen neues Leben in die darbenden Regionen Ostdeutschlands kommt.
Die Wahlkreis-Abgeordnete Maja Wallstein setzt auf das zweite Szenario: "Ich vertrete ja die These, dass die Lausitz spätestens in zehn Jahren die spannendste Region Deutschlands ist, wenn nicht Europas", begrüßt die SPD-Politikerin ihren Parteivorsitzenden Klingbeil sowie etwa 50 Zuhörerinnen im Kompetenzzentrum Forst. Der Saal des schmucken Veranstaltungshauses ist voll, obwohl es kaum Plakatwerbung für das Format "Klingbeil im Gespräch" gab. Die wenigen Ankündigungen hängen in abrisssicheren drei Metern Höhe am Laternenmast.
Wo sind die Ärzte hin?
Enthusiastisch erzählt die 37-jährige Wallstein, die 2021 das Direktmandat im Wahlkreis Cottbus-Spree-Neiße gewann, vom Stimmungswandel, den sie während ihrer derzeitigen Zuhör-Wanderung durch die umliegenden Dörfer wahrnehme. "Hier ist der Enkel zurückgezogen, da hat der Betrieb einen Nachfolger gefunden", sagten ihr die Menschen beim Gespräch am Gartenzaun. Doch ihren Optimismus hat Wallstein im Verlauf der folgenden zwei Stunden ziemlich exklusiv. Die Menschen, die nicht nur Klingbeil einmal live sehen wollten, bekunden vor allem Sorgen und Ärger.
Der Inhaber eines alteingesessenen Betriebs zur Produktion technischer Bürsten hält dem SPD-Vorsitzenden vor, dass ein von Klingbeil geforderter deutlich höherer Mindestlohn als 12,41 Euro existenzgefährdend sei. Die notwendigen Metalle seien 50 Prozent teurer geworden seit Russlands Überfall auf die Ukraine. Er klagt: "Wir gehen vor die Hunde." Klingbeil verspricht ihm anderweitige Entlastungen für kleine Betriebe, steht aber zu seiner Mindestlohn-Forderung.
Zwei ältere Damen und der Lebenspartner eines schwerkranken Mannes berichten, wie mühselig die weiten Wege seien, um überhaupt noch einen Arzt zu Gesicht zu bekommen. "Das ist eine Zumutung hoch fünf", ruft ein anderer Mann. Klingbeil redet über Konzepte, die er aus seiner Heimat Niedersachsen kennt. Wallstein berichtet von den Bemühungen der SPD-geführten Landesregierung um eine bessere medizinische Versorgung. Im nahegelegenen Cottbus sollen auf einem neuen medizinischen Campus bald Ärzte ausgebildet werden. Aber: "Wir können die Leute nicht zwingen, zu uns zu kommen", sagt Wallstein. Klingbeil kennt das Thema Ärztemangel aus dem ganzen Land. In den strukturschwachen, überalterten Gebieten im Osten fehlen sie besonders.
"Ich habe auch Angst vor dem Krieg"
Emotional wird es beim am meisten diskutierten Thema an diesem Abend: Russlands Krieg gegen die Ukraine. In den neuen Bundesländern, das zeigen Umfragen, sind viele Menschen der Meinung, dass die ukrainische Regierung und die NATO-Staaten mindestens eine Mitschuld treffe. Dass die Bundesregierung die Lieferung von US-Streumunition an die Ukraine hinnimmt, können viele Diskussionsteilnehmer nicht nachvollziehen. "Die Ossis bilden sich ihre eigene Meinung", sagt eine ältere Frau um die 60 unter Verweis auf Alternativen zu etablierten Nachrichtenmedien. Das Misstrauen im Saal in Medien und Bundesregierung ist beim Thema Ukraine spürbar groß. Mehrere Redner bekunden ihre Angst vor einem Krieg zwischen Russland und Deutschland.
Auch Wallstein spricht über ihre eigenen Ängste. "Ich fühle das gleiche, aber ich komme zu einem anderen Schluss", erklärt die zweifache Mutter ihre Unterstützung für die Ukraine-Politik der Bundesregierung. "Ich habe auch Angst vor dem Krieg", sagt Klingbeil und erklärt, wie gründlich Bundeskanzler Olaf Scholz Entscheidungen zum Ukraine-Krieg abwäge. Doch einige Anwürfe ärgern ihn. "Niemand im deutschen Bundestag, niemand in der Sozialdemokratie hat sich gewünscht, hat darauf hingewirkt, dass dieser Krieg ausbricht." Gegen Ende des Abends steht der SPD-Chef mit einigen der schärfsten Kritiker bei einer Bratwurst zusammen.
Bei seinen Gesprächen mit Bürgern am Vortag in Mecklenburg-Vorpommern sei es ähnlich gewesen, berichtet Klingbeil später im Gespräch mit ntv.de: viel Applaus für Positionen, die Putins Kriegsschuld relativieren, weniger Zustimmung zur Regierungspolitik als er sie etwa in Niedersachsen erfahre. Auch Wallstein empfindet den Abend als typisch für die Debatten, die sie in ihrem Wahlkreis führt. "Der Krieg in der Ukraine, der Ärztemangel, Bildungspolitik, Rechtsextremismus und Löhne und Inflation: Das beschäftigt die Menschen hier, da fordern sie Antworten", sagt Wallstein.
Rechtsextreme auf dem Vormarsch

2024 wiederholt sich das Duell um die stärkste Kraft in Brandenburg: SPD mit Woidke gegen AfD.
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Antworten zu geben, ist aber gar nicht so einfach. "Wir haben in der Regierung vieles getan für die Menschen, aber die kriegsbedingte Inflation hat dieses Mehr aufgefressen. Der Kurs bleibt dennoch richtig", sagt Klingbeil nach der Diskussion. Als Chefstratege des SPD-Bundestagswahlkampfs hatte Klingbeil gerade im Osten einen Nerv getroffen. "Respekt" vor den Leistungen und Sorgen der Menschen hatte Scholz den Wählerinnen versprochen. Die SPD wurde stärkste Kraft im Osten, holte alle Direktmandate in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Auch wenn es wie in Wallsteins Wahlkreis teilweise knapp war. Sie fuhr 2300 mehr Erststimmen als die AfD ein, die 2021 in den ostdeutschen Flächenländern nur zweitstärkste Partei war, jetzt aber deutlich in den Umfragen führt.
Auch in Brandenburg könnte die AfD bei den Landtagswahlen 2024 stärkste Kraft werden, was nicht nur SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke frustriert. Forst, wo die AfD schon seit 2019 die Stadtverordnetenversammlung dominiert, gehört zu Woidkes Wahlkreis, er kommt aus der Ecke und wohnt hier noch immer.
In seinem Jahresbericht 2022 geht Brandenburgs Landesverfassungsschutz bei etwa 730 der rund 1400 AfD-Mitglieder "von einer rechtsextremistischen Einstellung" aus. "Charakteristisch für den Landesverband Brandenburg ist zudem, dass sich führende Mitglieder aktiv um die Vernetzung mit dem rechtsextremistischen Spektrum bemühen und so die Entgrenzung des Rechtsextremismus aktiv vorantreiben", heißt es weiter. Klingbeil ist besorgt über den Vormarsch rechter Netzwerke in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands. "Da geht es um die Eroberung von sozialen und kulturellen Räumen. Der Kampf ist noch nicht verloren, aber wir müssen gegenhalten", sagt Klingbeil zu ntv.de.
Gespräche und ein Rennen gegen die Zeit
"Wenn es hart auf hart kommt, entscheiden sich die Menschen hier auch gegen die Nazis", sagt die Wahlkreisabgeordnete Wallstein. Anders als in anderen Regionen Deutschlands maskiere sich die AfD in der Lausitz auch gar nicht erst als bürgerlich. Umso wichtiger seien Veranstaltungen wie die öffentliche Diskussion mit Klingbeil: Es gebe ein Bedürfnis, Dampf abzulassen und Unzufriedenheit über 'die in Berlin' auszudrücken. "Die Leute wollen gesehen werden und man sieht es ja an der Reaktion der Medien: Wer ankündigt, AfD zu wählen, verschafft sich Aufmerksamkeit." Gegen diese Stimmung will Wallstein weiter anreden und zuhören. "Ich sehe derzeit überhaupt keinen anderen Weg mehr außer dem persönlichen Gespräch."
Ähnlich der SPD-Bundesvorsitzende: "Es geht um Präsenz vor Ort, darum, die richtigen Themen zu adressieren und darum, wie man mit den Menschen umgeht. Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern mit Respekt. So können wir auch Wähler, die in den Umfragen jetzt zur AfD neigen, bis zum nächsten Wahltag zurückholen", sagt Klingbeil. Gute Löhne, auskömmliche Renten, die Mieten- und die Energiepreisfrage blieben die Schlüsselthemen. "Dafür haben wir die Ideen und noch einiges vor. Die AfD ist in diesen Fragen blank."
"Wow-sitz" lautet Wallsteins Lieblingswortspiel mit Blick auf die schon jetzt rasant betriebene Strukturentwicklung in der Lausitz, seit klar ist, dass der Braunkohletagebau als letzter großer Arbeitgeber abgelöst werden soll. Umso wichtiger sei, dass Fachkräfte oder Ärzte aus anderen Regionen oder Ländern nicht durch eine in Teilen fremdenfeindliche Stimmung abgeschreckt würden, sagt sie. 17 Milliarden Euro wollen der Bund, Brandenburg und Sachsen bis zum Kohle-Aus 2038 in die Region investieren. Wind- und Photovoltaikanlagen sowie die Produktion von Wasserstoff sollen Arbeitsplätze schaffen und neue, energieintensive Unternehmen anlocken. Nichts, was von heute auf morgen geht, doch die Arbeit am wirtschaftlichen Aufschwung - in Deutschland im Allgemeinen und in der Lausitz im Besonderen - ist ein Rennen gegen die Zeit. Kommt er, dürfte auch die AfD wieder an Zuspruch verlieren. Es sind noch 14 Monate bis zur Landtagswahl in Brandenburg.
Quelle: ntv.de