Politik

Konstituierende Sitzung Schäuble mahnt stark und provoziert etwas

Wolfgang Schäuble bezeichnete es als Irrtum, dass gesellschaftliche Gruppen nur durch ihre eigenen Angehörigen vertreten werden könnten.

Wolfgang Schäuble bezeichnete es als Irrtum, dass gesellschaftliche Gruppen nur durch ihre eigenen Angehörigen vertreten werden könnten.

(Foto: dpa)

In der ersten Sitzung des neuen Bundestags wirbt Wolfgang Schäuble für Anstand, Streit und Kompromisse - und plädiert für Positionen, die in einer Debatte sicher nicht unwidersprochen geblieben wären.

Mit seiner letzten Rede vom Präsidium des Bundestags aus hat Wolfgang Schäuble die konstituierende Sitzung des neugewählten Parlaments eröffnet - nicht in seiner bisherigen Rolle als Bundestagspräsident, sondern als Alterspräsident des Deutschen Bundestags.

Zunächst jedoch musste er sich von der AfD infrage stellen lassen: Die Fraktion stellte den Antrag, zur ursprünglichen Definition des Alterspräsidenten zurückzukehren. Diese war vor vier Jahren geändert worden, um zu verhindern, dass ein AfD-Politiker die konstituierende Sitzung des damaligen Bundestags leitet. Auch heute ist der 79 Jahre alte Schäuble nicht der älteste, sondern der dienstälteste Abgeordnete; der älteste ist der AfD-Politiker Alexander Gauland.

Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann, verwies zur Begründung des Antrags darauf, dass nur ein Parlament mit der ursprünglichen Tradition des Alterspräsidenten gebrochen habe: der von den Nazis dominierte Reichstag 1933. SPD-Parlamentsgeschäftsführer Carsten Schneider nannte diesen Vergleich eine Frechheit, er betonte: "Ich könnte mir keinen besseren Alterspräsidenten vorstellen als Dr. Wolfgang Schäuble." Für die Union sagte deren Fraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer, wer wie Gauland die NS-Zeit als "Fliegenschiss" bezeichnet habe, habe sich selbst für die Rolle als Alterspräsident disqualifiziert.

Schäuble warb in seiner Rede für ein Parlament, dass seine Rechte gegenüber den anderen beiden Gewalten, der Exekutive und des Judikative, selbstbewusst vertritt. Er plädierte für fairen Streit, aber auch für Kompromisse, ohne die es nicht gehe. Angesichts des größten Bundestags in der Geschichte der Bundesrepublik mahnte Schäuble zudem eine Wahlrechtsreform an, "die diesen Namen verdient". Eine solche Reform "duldet ersichtlich keinen Aufschub", sagte er und forderte zugleich eine fraktionsübergreifende Lösung. Den neuen Abgeordneten gab er mit auf den Weg, sich den Sinn dafür zu bewahren, "was anständig ist - und womöglich noch stärker, was unanständig ist".

Konservativ, aber nicht reaktionär

In einem Interview mit der Wochenzeitung des Bundestags, "Das Parlament", hatte Schäuble unlängst gesagt, das Tempo der Veränderungen werde schneller und auch das Parlament brauche eine ständige Veränderung. "Und vielleicht ist es ja nicht falsch, wenn ein paar in diesem schnellen Wandel auch längere Erfahrungen mit einbringen." Das sei für ihn ein Motiv gewesen, noch einmal zu kandidieren - mit fast 50 Jahren im Bundestag ist Schäuble Rekordhalter der deutschen Parlamentsgeschichte.

In seiner Rede betonte Schäuble tatsächlich vor allem die Perspektive des Älteren - und versuchte, bei dem Thema Veränderungen das Tempo zu drosseln, ohne komplett auf die Bremse zu treten. Insofern könnte man die Rede konservativ, aber nicht reaktionär nennen. So zeigte er Verständnis für die Anliegen von Fridays For Future, sagte aber auch: "Das mitunter zähe Ringen um gesellschaftliche Mehrheiten sollten wir gerade auch denjenigen nahebringen, die mit Blick auf den Klimawandel von der Trägheit demokratischer Prozesse enttäuscht sind und sofortiges Handeln fordern."

Gäbe es zur Rede des Alterspräsidenten eine Debatte, hätten nicht nur Schäubles Anmerkungen über die Klimabewegung kritische Anmerkungen provoziert. Auch seine Sätze zur Rolle der Wissenschaft wären sicher nicht unwidersprochen geblieben. Die Wissenschaft könne keine "letzte Gewissheit" liefern, sagte Schäuble und verwies dann auf den Beginn der Corona-Pandemie, als der Stand von Wissenschaft und Medizin "noch recht unsicher" gewesen sei - ein legitimer, aber heikler Vergleich angesichts des stabilen wissenschaftlichen Konsenses in der Klimaforschung.

Stehende Ovationen

Beim Thema Vielfalt und Repräsentanz brachte Schäuble ebenfalls eine eher traditionelle Perspektive ein. "Verwechseln wir nicht Repräsentation mit Repräsentativität", mahnte er. Schäuble spielte damit auf die Debatte an, ob der Bundestag in seiner Zusammensetzung die Bevölkerung in ihrer Vielfalt überhaupt abbilde. Jeder Abgeordnete sei ein Vertreter des ganzen Volkes, sagte Schäuble. Er verwies zwar darauf, dass sich "natürlich die gewachsene Vielfalt unserer Gesellschaft in der Volksvertretung wiederfinden soll". Sein Schwerpunkt lag jedoch auf der Aussage, es sei ein Irrtum, dass gesellschaftliche Gruppen nur durch ihre eigenen Angehörigen vertreten werden könnten.

Diese Sicht dürfte nicht in allen Fraktionen ungeteilt unterstützt werden. Es wäre jedoch falsch, Schäuble vorzuwerfen, er habe als alter weißer Mann gesprochen, denn er unterstrich auch, die Abgeordneten müssten sich "immer wieder selbst hinterfragen, ob wir, ob unsere Parteien, der Vielfalt an Interessen und Meinungen genügend Gehör verschaffen".

Zum Ende seiner Rede fügte Schäuble "ein persönliches Wort" hinzu - nutzte dies dann aber nicht für eine Bemerkung in eigener Sache, sondern für eine Bitte, die deutlich machte, um welchen parlamentarischen Geist es ihm mit dieser Rede ging. Er habe in den vergangenen vier Jahren als Bundestagspräsident "ein fraktionsübergreifend hohes Maß an Unterstützung und Respekt" erfahren. "Dafür bin ich dankbar, und ich erhoffe und erbitte es auch für meine Nachfolgerin, die wir heute in dieses Amt wählen."

"Am Verhalten jedes Einzelnen von uns - auch das mussten wir zuletzt wieder erfahren - hängt die Würde dieses Hauses", schloss Schäuble seine Rede. "Wir haben es in der Hand, ob die Bürgerinnen und Bürger dieser Volksvertretung das schenken, worauf die parlamentarische Demokratie aufbaut, nämlich ihr Vertrauen." Dafür gab es stehenden Applaus im Bundestag - von allen Fraktionen.

Quelle: ntv.de

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