Yanis Varoufakis im Interview "Scholz ist ein politischer Zwerg"
22.10.2022, 08:25 Uhr
Der Wirtschaftswissenschaftler Yanis Varoufakis war 2015 griechischer Finanzminister und als solcher ein Gegenspieler von Wolfgang Schäuble. Er ist Mitglied des griechischen Parlaments für die linke Partei MeRA25, deren Gründer und Chef er ist.
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis zeichnet im Interview mit ntv.de ein düsteres Bild: Deutschlands Geschäftsmodell sei durch die aktuelle Energiekrise gescheitert und das wirtschaftliche Versagen der Europäischen Union vorprogrammiert.
Über Altkanzlerin Merkel sagt er, sie habe "ein riesiges politisches Kapital" verschwendet. "Kein anderer Kanzler wird jemals wieder die Fähigkeit haben, ein solches politisches Kapital zu schaffen, um überhaupt in die Lage zu kommen, Europa nach vorne zu bringen."
ntv.de: Wie würden Sie im Moment Deutschlands Rolle innerhalb der Europäischen Union beschreiben?
Yanis Varoufakis: Es gibt eine große Veränderung: Das deutsche Wirtschaftsmodell ist in sich zusammengefallen. Das deutsche Modell basierte auf billiger Energie aus Russland, dem Verkauf von Produkten an China und niedrigen Löhnen innerhalb Deutschlands. Die derzeitige Situation sieht aber so aus: Die Inflation hat das Drücken der Löhne unmöglich gemacht, Gas ist teuer geworden und China schwindet als Markt für Deutschland, aufgrund eines neuen Kalten Kriegs zwischen China und den USA, den die Biden-Regierung gerade eskaliert.
Und was ist bei Deutschland gleich geblieben?
Das ständige Beharren der aktuellen deutschen Bundesregierung - und vorheriger Regierungen - auf einseitigem Handeln und damit der Unterstützung der fiskalischen Strategie, einen Exportüberschuss zu erzielen - im Kern Neo-Merkantilismus. Auf der anderen Seite verwehrt Deutschland es dem Rest der Eurozone, ebenfalls so zu agieren und gleichwertige Maßnahmen zu implementieren.
Ist Deutschland ein Rüpel?
Ich mag das Wort nicht. Aber Deutschland beharrt eben auf seiner fiskalischen Macht, die wiederum andere Teile der EU nicht haben. Um es anders auszudrücken: Deutschland missachtet die Wettbewerbsgleichheit innerhalb der Europäischen Union.
Können Sie die Kritik an Deutschlands 200 Milliarden Euro Entlastungspaket verstehen? Andere EU-Länder hatten das als unsolidarisch gewertet…
Die Kritik kann ich sehr wohl verstehen, ja. Das ist eine Doppelmoral. Deutschland beharrt auf einem Binnenmarkt und vermeintlich gleichen Wettbewerbsbedingungen, während es gleichzeitig staatliche Hilfen für seine Industrie und Verbraucher durchdrückt. Staatliche Hilfen, die der Rest der EU nicht einführen kann aufgrund der finanzpolitischen Regeln, die für alle gelten, mit Ausnahme von Deutschland.
Sollte die Europäische Union einen echten EU-weiten Gaspreisdeckel beschließen oder haben Sie in dem Punkt Verständnis für die Warnung von Olaf Scholz, dass dies dazu führen könnte, dass dann weniger Gas an die EU verkauft wird?
Ich verstehe das Argument von Olaf Scholz. Aber auch hier zeigt es sich doch wieder, dass Scholz einfach nicht in der Lage ist, eine gemeinsame europäische politische Linie zu konzipieren. Sonst würde er nämlich verstehen, dass die EU gemeinsam Gas beschaffen könnte, indem sie ihre ungeheure Nachfragemonopolmacht nutzt. Dann gäbe es kein Angebotsproblem. Wenn man natürlich einfach nur einen Preisdeckel einführt, ohne die kollektive Kaufkraft der EU zu nutzen, dann liegt Scholz richtig. Scholz macht also einen Punkt, der zwar richtig ist, verfolgt dann aber eine Politik, die falsch ist.
In diesen Krisenzeiten: Steht die EU zusammen oder scheitert sie gerade?
Ich würde es deutlicher ausdrücken: Das Problem der Europäischen Union ist, dass es gar keine Europäische Union gibt. Als Name schon, aber nicht in der Realität. Wenn es um Geflüchtete oder Migranten geht, dann macht jeder seine eigene Sache. Wenn es um Gas geht, auch. Beim Wandel hin zu grünen Technologien haben wir doch auch keine grüne Union. Im Bankensektor haben wir immer noch keine gemeinsame Einlagensicherung und einen Eurobond gibt es auch nicht. All die Dinge, die eine Europäische Union real machen würden, sie fehlen. Und natürlich sieht man so etwas in Krisenzeiten noch deutlicher.
Aber wird es die EU Ihrer Meinung nach durch diese Energiekrise schaffen? Viele Menschen machen sich Sorgen mit Blick auf den Winter.
Das Versagen ist garantiert. Wir sehen doch jetzt schon eine rapide Deindustrialisierung in Europa. EU-Firmen zahlen zehnmal so viel für Gas, als ihre Wettbewerber in den USA oder China. Es gibt bereits die Unterbrechung von Produktionen und sehr bald werden wir sehen, dass Fabriken sich neue Standorte in den USA oder in anderen Ländern suchen werden. Die EU befindet sich in einer tiefen Krise. Das wird man wahrscheinlich nicht in diesem Winter erkennen, sondern erst im nächsten. In diesem Sommer wurden die Gasspeicher gefüllt, das wird im nächsten Sommer aber nur mit erheblich höheren Kosten möglich sein.
Sie haben China bereits angesprochen. Auch in Deutschland gibt es gerade eine kontroverse Debatte, da Bundeskanzler Scholz offenbar zulassen will, dass Teile des Hamburger Hafens an die Chinesen verkauft werden dürfen. Hat Deutschland gar nichts aus der Vergangenheit und der Gefahr von Abhängigkeiten gelernt? Wie sehen Sie das?
Die Lage ist komplex und sie ist nicht einfach schwarz oder weiß. Das deutsche Geschäftsmodell basiert, zumindest zu einem Drittel, auf dem Verkauf von Produkten an China. Es scheint mir so, dass Berlin aber ganz offenbar - so wie beim russischen Gas auch - ein Auge zudrückt. Man ignoriert in dem Fall den neuen Kalten Krieg, der sich gerade zwischen den USA und China entwickelt und macht einfach so weiter, wie bisher.
Eine weitere Sichtweise ist allerdings diese: Ich denke, persönlich und politisch, dass dieser neue Kalte Krieg zwischen den USA und China katastrophal für die Welt sein wird. Ich bin extrem verärgert darüber, dass die Regierung von US-Präsident Joe Biden diesen Krieg auch noch anheizt. Die jüngsten Aussagen von Biden haben uns im Grunde auf einen Weg der nuklearen Auseinandersetzung zwischen den USA und China geführt. Und ich mache die USA dafür verantwortlich.
Was Scholz und den Hafen betrifft: Wenn Scholz den Part eines Mediators zwischen Washington, Peking und Berlin einnehmen würde und der Verkauf an Cosco ein Teil dieses Friedensprozesses wäre, dann würde ich das begrüßen. Aber ich bin der Meinung, dass Olaf Scholz ein politischer Zwerg ist, der überhaupt nicht die Kapazität hat, so zu denken. Deswegen wäre der Verkauf an Cosco keine Strategie, um die Welt stabiler zu machen, sondern letztlich nur ein weiterer Fall von Kurzsichtigkeit.
Zum Schluss noch diese Frage: Wie sehen Sie heute das Erbe von Angela Merkel?
Sie war eine bemerkenswert geschickte Verhandlerin und eine kurzfristig denkende Krisenmanagerin mit der einzigartigen Fähigkeit, sicherzustellen, dass sich gar nichts verändert, auch wenn man die Dinge hätte verändern müssen. In diesem Sinne hat sie ein riesiges politisches Kapital verschwendet. Kein anderer Kanzler wird jemals wieder die Fähigkeit haben, ein solches politisches Kapital zu schaffen, um überhaupt in die Lage zu kommen, Europa nach vorne zu bringen. Deswegen müssen wir sie dafür kritisieren, dass sie dieses Kapital verschwendet hat.
Mit Yanis Varoufakis sprach Philipp Sandmann
Quelle: ntv.de