Kilicdaroglus Erdogan-Taktik Er lässt sich schon "Mein Präsident" nennen


Erdogans Herausforderer Kilicdaroglu ist ehemaliger Staatsbeamter, seit 2010 Vorsitzender der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP - und in den meisten Umfragen vorne.
(Foto: picture alliance / abaca)
Es gab ein offenes Geheimnis, mit dem der türkische Präsident Erdogan seinem ernsthaftesten Widersacher einst zu schaden versuchte. Der Sozialdemokrat Kilicdaroglu wendet den vermeintlichen Nachteil im Wahlkampf gegen Erdogan zu einem Argument für sich.
Der größte Herausforderer des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bei der anstehenden Wahl am 14. Mai heißt Kemal Kilicdaroglu. Er ist der Parteivorsitzende und Spitzenkandidat der von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk gegründeten Partei CHP. Und er ist Alevit. Das bekennt er wenige Wochen vor der Wahl erstmalig ganz offen in einem Video, das innerhalb weniger Tage alleine auf Twitter über eine halbe Million Likes bekommt. Sein Statement ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist eine kleine Sensation.
Die Aleviten, von denen es in der Türkei nach Schätzungen rund 10 bis 20 Millionen gibt, folgen einigen Regeln und Riten des Islam und anderen nicht. Alevitische Frauen tragen in der Regel kein Kopftuch und verrichten mit Männern gemeinsam das Gebet. Musik spielt bei den Aleviten eine große Rolle, sie fasten anders. In der Vergangenheit sind sie in der Türkei Opfer von Diskriminierung und Massakern geworden. 1993 starben bei einem Brandanschlag in Sivas 37 Menschen meist alevitischen Glaubens. Auch Kilicdaroglu wurde wenige Tage nach seinem Bekenntnis bei einem Besuch in Adiyaman mehrfach Opfer von Pöbeleien und Angriffen. Strengen Sunniten gilt Kilicdaroglus Glaube nach wie vor als ketzerisch.
Erdogan selbst hat bei vergangenen Wahlkämpfen immer wieder auf die alevitische Identität von Kilicdaroglu hingewiesen - aber als Waffe gegen diesen. Der im deutschen Exil lebende türkische Journalist Can Dündar beschreibt dies kürzlich als "klaren Fall von Othering" - also der abwertenden Ausgrenzung anderer Gruppen als der eigenen. In Kilicdaroglu sieht Dündar einen Hoffnungsträger, der als erster Alevit türkischer Regierungschef werden könnte. "So wie einst Obama", nennt er seinen Text über den 74-Jährigen.
Wahlprognosen favorisieren Kilicdaroglu
Kilicdaroglus Religionszugehörigkeit war bereits vor seinem Bekenntnis ein offenes Geheimnis, aber ein Defensivthema für den 74-Jährigen. Nun könnte es ihm - wie seinerzeit Barack Obama - gelingen, seine Herkunft und Identität in positiver Weise in seine Erzählung über sich einzubauen, um so einen medienwirksam Wahlkampf zu machen.
"Ich bin Alevit. Ich bin ein aufrichtiger Muslim, aufgewachsen im Glauben an Gott, Muhammad und Ali", sagt er in dem Video. Ali, der Schwiegersohn und Vetter von Muhammad, spielt für die Aleviten wie etwa auch für die Schiiten eine herausragende Rolle im Glauben. "Ich habe eine Seele, die mir Allah gab", fährt er fort. "Ich tue niemandem Unrecht." Im Folgenden zeichnet er seine Vision einer Türkei, die alle religiösen und ethnischen Trennlinien hinter sich lässt, in der alle Menschen vereint an einer erfolgreichen Zukunft des Landes arbeiten.
Das Video wurde in der Türkei zigtausende Mal geteilt und kommentiert, alleine auf Twitter fand es den Gefallen Hunderttausender. Laut mehreren türkischen Medien wurde gar weltweit nie ein Video innerhalb weniger Tage so oft auf Twitter angesehen. Kilicdaroglu habe einen Rekord des Fußballers Messi gebrochen. Im prominentesten Kommentar unter dem Video heißt es: "Alle Politiker sollten sich dieses Ausdrucks bedienen." Tatsächlich erweist sich Kilicdaroglu in seinen Auftritten als charismatischer, als ihm das vorher zugetraut worden war. Bisher sahen Experten in ihm, der jahrzehntelang als Bürokrat im Staatsdienst arbeitete, eher einen Politiker, der es mit einem dominant agierenden Widersacher wie Erdogan nur schwer aufnehmen kann.
In einigen Umfragen zur Präsidentenwahl liegt Kilicdaroglu nun aber sogar vor Erdogan. Bei der gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahl liegen die Bündnisse der beiden knapp beieinander.
Die "Fehler" von Kilicdaroglu und seiner Partei
Aber würde Kilicdaroglu es schaffen, so inklusiv zu regieren, wie er verspricht? Viele seiner Kollegen in der CHP sind bekannt dafür, in der Vergangenheit auf fromme Muslime herabgesehen zu haben - und tun dies teils bis heute. Erdogans Erfolg seit über zwei Jahrzehnten speist sich auch daraus, dass er den Frust religiöser Menschen in der Türkei verstand und sich etwa dafür einsetzte, dass Frauen an Universitäten oder im Staatsdienst ihr Haupt mit einem Kopftuch bedecken dürfen. Gegen den Willen der CHP, gegen den des Militärs - beides Wächter des Laizismus in der Türkei - setzte sich Erdogan in den vergangenen Jahrzehnten in vielen Dingen durch und baute seine Macht aus.
Kilicdaroglu räumte bereits ein, dass die CHP beim Kopftuchverbot "in der Vergangenheit Fehler gemacht" habe. Bei einem anderen Wahlkampfthema - den arabischen Flüchtlingen in der Türkei - äußert er sich aber weiterhin wenig inklusiv. Bei einem Wahlkampfauftritt verspricht er: "Wir werden unsere syrischen Brüder und Schwestern innerhalb von zwei Jahren in ihre Heimat schicken." Kilicdaroglu, der sonst eher besonnen und fast großväterlich wirkt, ist bei dem Thema für seine Person ungewöhnlich harsch, scheint bei vielen Türkinnen und Türken damit aber einen Nerv zu treffen.
Im Gespräch mit Nicht-Erdogan-Anhängern in der Türkei kommt immer wieder der Vorwurf auf, Erdogan bringe mit den syrischen Flüchtlingen konservative Muslime ins Land, strenge deren Einbürgerung an, treibe die Islamisierung der einst auf laizistischen Grundsätzen gegründeten Republik voran. Für einen Wahlkampf ist dies, ungeachtet des Wahrheitsgehalts, relevant. Zumal Kilicdaroglu in seinem Bündnis von sechs Parteien für die Wahl die rechte Iyi Parti hat, deren Wählerschaft er mit Attacken auf Flüchtlinge bei der Stange zu halten scheint, während Erdogan seinerseits weiterhin mit der ultranationalistischen MHP zusammenarbeitet.
Dündar spricht von "historischer Weggabelung"
Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der kemalistisch ausgerichteten Zeitung "Cumhuriyet", sieht die Türkei jedenfalls an einer "historischen Weggabelung". Sie stehe "an der letzten Ausfahrt vor der Brücke" und könne noch den Weg zur Demokratie einschlagen, statt den zur Autokratie. Nicht verwunderlich: Dündar, bekanntlich ein Widersacher Erdogans, sieht Kilicdaroglu dabei als den Demokraten.
Für einen Wahlerfolg Erdogans sprechen dessen konstante Wahlerfolge über Jahrzehnte. Auf Kilicdaroglus Seite scheint indessen das Momentum zu sein. Während Erdogan Wahlkampfauftritte gesundheitsbedingt absagen muss, stellt Kilicdaroglu beliebte Politiker in seinem Team vor. Wie den 2019 ins Amt gekommenen Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu. Dieser tritt dezidiert religiös auf, vertritt aber nichtsdestotrotz liberale und integrative Standpunkte, passt also zu dem, was Kilicdaroglu nur wenige Wochen vor dem Wahltag zu vermitteln versucht - sieht man mal vom Flüchtlingsthema ab. Die Politikforscherin Seren Selvin Korkmaz beschreibt in einer beim "Washington Institute for Near East Policy" veröffentlichten Analyse als eine der übergeordneten Wahlkampfstrategien Kilicdaroglus die "inklusive Rhetorik" - im Gegensatz etwa zu Erdogans Ansatz, der seit jeher versuche, die Opposition zu spalten.
Türkischer Çay und Fintech
Wenige Tage nach seinem Identitätsbekenntnis veröffentlicht Kilicdaroglu ein Video zusammen mit Imamoglu und dem Ankaraner Oberbürgermeister Mansur Yavas. Es wird erneut ein Hit und überdurchschnittlich oft, nämlich rund 400.000 Mal, alleine auf Twitter geliket. Imamoglu wie Yavas, einst selbst als mögliche Herausforderer von Erdogan gehandelt, sprechen ihren Parteikollegen Kilicdaroglu im Video bereits vor der Wahl als "Mein Präsident" an. Er würde die beiden wiederum im Falle des Wahlsiegs zu seinen Vizepräsidenten machen. Die drei haben jeweils ein Glas türkischen Tee vor sich stehen. Auf dem Tisch liegt aber auch gut sichtbar ein Buch zum Thema "Fintech". Hier wird offenbar versucht, die Vergangenheit mit der Zukunft durch eine geeignete bildrhetorische Inszenierung zu vereinen.
Ob der derzeitige Aufwind mehr als eine Momentaufnahme ist und Kilicdaroglu auch tatsächlich ins Amt bringt, pünktlich zum 100-jährigen Bestehen der 1923 durch Atatürk ausgerufenen Republik, könnte am Ende im Übrigen auch wieder in erheblichem Maße von der kurdischen Stimme abhängen. Die pro-kurdische und linke Partei HDP hat keinen eigenen Kandidaten aufgestellt und jüngst sogar ihre Anhänger dazu aufgerufen, ihre Stimme für Kilicdaroglu abzugeben. Der einflussreiche ehemalige Parteivorsitzende Selahettin Demirtas teilte Kilicdaroglus Identitätsbekenntnis und schrieb dazu auf Twitter: "Jeder sollte mit Seele und Auge hinsehen und mit seinem Herzen zuhören. Es ist möglich, auf unseren Böden ohne Diskriminierung, in Gleichheit, Brüderlichkeit und Frieden zu leben. Ich gratuliere dem werten Kilicdaroglu und unterstütze diese schönen Botschaften von ganzem Herzen."
Aber auch Erdogan hat im Übrigen sehr wohl eine beträchtliche Stammwählerschaft etwa unter konservativ-sunnitisch geprägten Kurden. Der Forscher und Journalist Guney Yildiz beziffert diese für das "Washington Institute for Near East Policy" auf rund 20 bis 30 Prozent aller wahlberechtigten Kurden. Es bleibt also spannend.
Quelle: ntv.de