Stimmen zum Nahles-Rücktritt "So brutal darf Politik nicht sein"
02.06.2019, 13:45 Uhr
SPD-Chefin Andrea Nahles tritt nach dem miserablen Ergebnis der Europawahl und innerparteilicher Kritik als Fraktions- und Parteivorsitzende zurück. Sie wolle damit die Möglichkeit eröffnen, dass in beiden Funktionen in geordneter Weise die Nachfolge geregelt werden könne, erklärte Nahles in einem Schreiben an die Sozialdemokraten. Die 48-Jährige will sich komplett aus der Politik zurückziehen. Unter ihren Kollegen fallen die Reaktionen auf den Rücktritt gemischt aus - doch die Fragen sind die gleichen: Wie geht es nun weiter? Und in welchem Tempo?
Vizekanzler Olaf Scholz bedauerte den Rücktritt von Nahles. "Das Land und die SPD haben Andrea Nahles viel zu verdanken", sagte der Finanzminister. In schwierigen Zeiten habe sie die Verantwortung übernommen und den Erneuerungsprozess in der Partei begonnen. "Die SPD befindet sich nicht erst seit der Europawahl in einer schwierigen Lage - wichtig ist daher, dass wir zusammenbleiben und die nächsten Schritte gemeinsam gehen", erklärte der SPD-Vorsitzende. Zu seinen Ambitionen als möglicher Nachfolger von Nahles äußerte sich Scholz nicht.
Der baden-württembergische SPD-Vorsitzender Andreas Stoch teilte Scholz' Einschätzung. Der persönliche Druck auf Nahles sei mit jedem Tag weiter gestiegen. Gleichzeitig sei er zumindest zum jetzigen Zeitpunkt überrascht, teilte Stoch in Stuttgart mit. "Viele Probleme, in denen die SPD steckt, sind nicht erst in der Amtszeit von Andrea Nahles entstanden." Entscheidend sei doch: "Wir haben in der SPD bundesweit bislang keinen Plan B - weder inhaltlich noch programmatisch noch personell", sagte Stoch weiter. Jetzt müssen sich nach Überzeugung der Landeschefs alle zusammenreißen und in den kommenden Tagen in Verantwortung gegenüber der Partei und den Mitgliedern miteinander diskutieren und handeln. "Und zwar mit kühlem Kopf und heißem Herzen. Es geht hier um den Fortbestand der deutschen Sozialdemokratie."
Die Vorgänge bei den Sozialdemokraten bezeichnete Dietmar Bartsch als brutal. "Hochachtung vor Andrea Nahles", schrieb der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag auf Twitter. "So brutal darf Politik nicht sein. Vielleicht denken wir darüber alle einfach nur nach." Auch der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, empörte sich über den Umgang mit seiner Parteichefin: "Liebe Andrea Nahles", twitterte er. "Der öffentliche Umgang mit dir war schändlich. Einige in der SPD sollten sich schämen. Du hast dich nach Kräften bemüht, manche Wunde aus der Vergangenheit endlich zu heilen. Danke für deinen Einsatz!" Kritik über den Umgang mit Nahles kam auch vom rheinland-pfälzischen SPD-Vorsitzenden Roger Lewentz. Dieser sei zutiefst unsozialdemokratisch gewesen. "Tatsächlich hätte ich mir für die Phase eines Übergangs ein geordneteres Verfahren gewünscht." Für SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach hat auch Frauenfeindlichkeit eine Rolle beim Nahles-Aus gespielt.
Gabriel forderte "Entgiftung" der Partei
Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Partei, Thorsten Schäfer-Gümbel mahnte dagegen zur Besonnenheit bei Personal- und Sachentscheidungen. "Dazu brauchen alle Beteiligten Augenmaß und vor allem Zeit." Nahles habe die Führung der Partei und Bundestagsfraktion in überaus schwierigen Zeiten übernommen. "In ihrer Amtszeit hat sie unsere Partei mit den Sozialstaatsreformen aus der Ära Gerhard Schröder ausgesöhnt, indem sie ein neues Sozialstaatsverständnis angestoßen hat." Mit ihrem Schritt habe sie nun den Weg zu einer Neuaufstellung der SPD geöffnet. Zugleich kritisierte auch er den inakzeptablen Umgang mit Nahles nach der verlorenen Europawahl. "Kritik und Debatte müssen auch hart in der Sache immer möglich sein. Ich habe aber in den internen, mehr noch aber in den öffentlichen Erklärungen um die Partei- und Fraktionsvorsitzende schmerzlich die wichtigsten Grundwerte der Sozialdemokratie vermisst: Respekt und Solidarität."
Warme Worte für die scheidende Politikerin fand auch der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner. "Die Entscheidung von Andrea Nahles verdient allergrößten Respekt, insbesondere wenn man weiß, mit welcher Leidenschaft sie immer wieder Verantwortung für ihre Partei übernommen hat", sagte Stegner. Auch er sprach eine Warnung an die Genossen aus: "Der Umgangsstil innerhalb der SPD in den letzten Tagen und Wochen war überhaupt nicht vom sozialdemokratischen Grundwert der Solidarität geprägt", sagte er weiter. "Wenn wir neues Vertrauen gewinnen und diese gravierende Krise überwinden wollen, muss sich das grundlegend ändern", mahnte er. Stegner warnte zudem vor möglichen Schnellschüssen oder "Handeln aus der Ich-Perspektive". Alle notwendigen Weichenstellungen müssten sorgfältig, gemeinsam und transparent auf den Weg gebracht werden.
Der ehemalige Parteichef Sigmar Gabriel forderte eine "Entgiftung" seiner Partei. "Solange sich die SPD nur mit sich selbst beschäftigt, solange es nur um das Durchsetzen oder Verhindern von innerparteilichen Machtpositionen geht, werden die Menschen sich weiter von uns abwenden", sagte er der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung". Auch künftig dürfe in der SPD hart über inhaltliche Differenzen gestritten werden, erklärte Gabriel. "Das gab es immer und das ist auch nötig in einer Partei." Nötig sei aber ein ehrliches Interesse an Menschen und ein freundlicher und solidarischer Umgang "nach innen und außen".
AfD und FDP sehen Bundesregierung vor Fall
Einzig allein der SPD-Abgeordnete Florian Post begrüßte die Entscheidung seiner Chefin. Der Nahles-Kritiker nannte diesen Schritt "richtig und konsequent". "Das war die letzte Möglichkeit, den Riss und die Spaltung wieder zu kitten." Post hatte Nahles in den vergangenen Tagen scharf kritisiert. In der Fraktion sei nun bis zur für Dienstag anberaumten Neuwahl Zeit, dass sich Kandidaten melden. Er gehe davon aus, dass mögliche Bewerber bereits an exponierter Stelle in der Fraktion gestanden hätten und den Abgeordneten deshalb bekannt seien.
Und wie geht es nun weiter bei den Sozialdemokraten? Nicht nur sie hoffen auf eine schnelle Nachfolgeregelung. Auch die Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck sprachen am Mittag davon, dass die SPD "rasch ihre Personalfragen klärt und sich dann mit neuer Kraft auf ihre Aufgaben konzentrieren kann". Nahles zollten sie Respekt für ihre "klare Entscheidung".
Alice Weidel sieht auch die Große Koalition vor dem Zerfall. "Nicht nur die SPD befindet sich in Auflösung, auch die GroKo wandelt nur noch als Untoter über die politische Bühne", sagte die Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion. "Tag für Tag fallen mehr und mehr Glieder ab." Auch FDP-Chef Christian Lindner sieht die Bundesregierung wanken. Nahles' Rücktritt beantworte keine Kursfrage der SPD, sondern beschere Deutschland nur eine instabile Regierung, twitterte er. Die CDU dagegen will die Bundesregierung nicht infrage stellen. Es sei klar, dass die Koalition den Regierungsauftrag habe und diesen auch erfüllen müsse, hieß es mittags aus Parteikreisen in Berlin. Jeder müsse sich dieses Auftrags bewusst sein und verantwortungsvoll damit umgehen, hieß es weiter.
Zusammengestellt von Linn Rietze
Quelle: ntv.de