Neue Debatte um Infanteriemangel Gelingt der Ukraine in Pokrowsk die nächste Überraschung?
31.10.2025, 10:22 Uhr Artikel anhören 
		                      Einen russischen Vorstoß in Richtung Dobropillja konnte die Ukraine vor einigen Wochen unter Kontrolle bringen. Aktuell gibt es heftige Kämpfe im nahegelegenen Pokrowsk.
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Dass es der Ukraine an Soldaten mangelt, ist nicht neu. In der Vergangenheit ist es den Streitkräften trotzdem gelungen, die russische Invasion größtenteils aufzuhalten. Die heftigen Kämpfe in Pokrowsk lösen nun neue Debatten darüber aus, ob Kiew die Infanteristen ausgehen - und ob ein Rückzug besser wäre.
Die US-Denkfabrik Atlantic Council zeichnet angesichts der heftigen Kämpfe in und um Pokrowsk ein besorgniserregendes Bild der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit. Staatschef Wolodymyr Selenskyj hatte in dieser Woche erklärt, dass die ukrainischen Truppen dort im Verhältnis acht zu eins unterlegen seien. Mengenverhältnisse, mit denen die Ukraine allerdings auch in den letzten Jahren bereits mehrfach konfrontiert war.
Es bestehe die Befürchtung, dass die Ukraine nun an einem Punkt angelangt sein könnte, an dem sie nicht mehr über genügend Kämpfer verfügt, um die Frontlinien zu verteidigen, schreibt das Atlantic Council in einer aktuellen Analyse. Die Entscheidung der ukrainischen Regierung, Männern im Alter von 18 bis 22 Jahren die Ausreise zu erlauben, habe die Situation verschärft. Viele hätten sich seitdem ins Ausland begeben.
Männer im Alter bis 25 Jahre werden in der Ukraine aber ohnehin nicht zum Dienst an der Front verpflichtet, was in der Vergangenheit ebenfalls oft kritisiert wurde. Die Regierung setzt stattdessen darauf, diese Menschen über Freiwilligenprogramme zu gewinnen.
Die Macher der "Ukraine Control Map", die das tägliche Frontgeschehen anhand von geolokalisierten Bildern und Videos in einer Karte darstellen, schreiben von einem "Höhepunkt der Rekrutierungskrise". Zehntausende ins Ausland gegangene junge Männer würden "große Lücken" im Land hinterlassen.
Russland würde Pokrowsk für Propaganda nutzen
"Wenn Putins Kommandeure Pokrowsk einnehmen können, wird das von vielen als Bestätigung der Kreml-Strategie gesehen werden, den Sieg durch die schiere Größe der russischen Armee zu erringen", schreibt das Atlantic Council. Putin werde den zunehmenden chronischen Mangel an Soldaten aufseiten der Ukraine als das "bisher stärkste Zeichen dafür sehen, dass die Zeit auf seiner Seite ist".
Auch die ebenfalls abgekämpften Kreml-Streitkräfte sind vor Problemen nicht gefeit. Trotz deutlicher Überlegenheit beim Personal werden unter massiven Verlusten seit langer Zeit schon nur noch kleine Ortschaften eingenommen. Die Rekrutierung von Freiwilligen soll zuletzt etwas schlechter gelaufen sein. Stattdessen wird in Zukunft möglicherweise verstärkt auf die aktive Reserve im Land zurückgegriffen.
Die zahlenmäßig unterlegene ukrainische Armee habe kaum eine andere Wahl, als in der Defensive zu bleiben, heißt es vom Atlantic Council. "Die ukrainischen Befehlshaber müssen bereit sein, bei Bedarf Gelände aufzugeben, um wertvolle Kampfkraft zu erhalten, während sie gleichzeitig nach Möglichkeiten suchen, die Verluste des Feindes zu maximieren." Eine Strategie, die auch in der Vergangenheit bereits angewendet wurde, als Ortschaften aufgegeben wurden.
Eine Kombination aus schweren Verlusten an der Front, eskalierenden Angriffen über weite Distanzen sowie wirtschaftliche Probleme könnten Kremlchef Putin an den Verhandlungstisch zwingen, schreibt das Atlantic Council.
Ukraine zahlenmäßig immer wieder weit unterlegen
Die Situation ist für die Ukraine nicht neu. Von einer Unterlegenheit im Bereich acht zu eins oder auch zehn zu eins hatten die Streitkräfte in den letzten Jahren mehrfach berichtet. Die ukrainische Armee verfügt nach wie vor über Hunderttausende Angehörige in ihren Reihen. Die Rekrutierung läuft laut Angaben aus der Regierung gut, nur bei einem kleinen Teil werde Zwang angewendet. Im Bereich der Infanterie gibt es laut diversen Berichten von Kommandeuren jedoch einen großen Mangel.
Diesen konnte die Armee durch den Einsatz von Drohnen und die Aufgabe von Gebieten, wenn der Druck zu hoch wurde, bislang verhältnismäßig gut bewältigen. Ohne ausreichend Infanterie ist allerdings kein Kampf möglich. Selbst wenn Verteidigungsanlagen mit Schützen- und Panzergräben sowie Stacheldraht und Drachenzähnen noch so ausgebaut sind, braucht es Soldaten, die in diesen Bereichen agieren.
Die Hunderte Kilometer lange Front ist bereits jetzt "keine durchgehende Linie von Stellungssystemen, die ineinander gestaffelt angelegt sind", sagt Militärexperte Oberst Reisner im Gespräch mit ntv.de. "Die Ukraine hat Stützpunkte angelegt, die sich mit großen Abständen zueinander im Gelände befinden. Ich nenne das Perlenkette. Und die Abstände zwischen diesen einzelnen Perlen, den einzelnen Stützpunkten, werden immer größer."
Ex-Bundeswehr-Oberst Ralph Thiele sagt ntv, die Ukraine sei personell schon "an einer Grenze. Wer sich die Verteidigungslinie anschaut, der sieht, dass sie doch recht porös ist. Das heißt, man kämpft an Schwerpunkten, an Punkten, die einem besonders bedeutsam sind, und lässt zwischendurch Löcher." Das gehe aufgrund der exzellenten Aufklärungsmöglichkeiten.
"Nicht schließen, dass Russland schnell gewinnt"
Als den russischen Streitkräften vor wenigen Monaten ein schnelles, kilometerweites Vorrücken bei Dobropillja gelang und die Aufregung um einen Durchbruch groß war, konnte eine in das Gebiet geschickte ukrainische Einheit die Situation wieder unter Kontrolle bringen.
"Man sollte aus 'Russland in Pokrowsk' nicht schließen, dass Russland schnell gewinnt oder irgendetwas anderes erreicht", schreibt der Militärexperte Nico Lange auf X. "Erste Berichte, dass Pokrowsk fallen würde, kursierten bereits im November/Dezember 2024. Es sind noch viele weitere Monate sehr kostspieliger Kämpfe für Russland um Ruinen möglich", fügt er hinzu. Oder doch ein Rückzug, um andere Verteidigungsstellungen zu verstärken und die anstürmenden russischen Streitkräfte erneut viele Monate aufzuhalten?
Serhii Beskrestnov, ein Experte für elektronische Kriegsführung, plädiert dafür, "Verantwortung und Mut zu übernehmen und unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Ich glaube, dass es nichts Wertvolleres gibt als Menschen." Aber entscheiden müsse letztlich das Oberkommando, das den gesamten Überblick habe. "Verliert die Jungs nicht sinnlos für Politik und öffentliche Meinung", so Beskrestnov.
Quelle: ntv.de, rog
 
   
   
   
   
		                             
		                             
		                             
		                             
		                             
		                             
		                             
		                             
		                            