Politik

Überdehnte Verteidigung Die ukrainische Front ist eine "löchrige Perlenkette"

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Ukrainische Soldaten feuern entlang der Front mit D30-Artillerie auf russische Infanterie.

Ukrainische Soldaten feuern entlang der Front mit D30-Artillerie auf russische Infanterie.

(Foto: IMAGO/Anadolu Agency)

An der Front in der Ukraine kommt die russische Armee seit geraumer Zeit ganz langsam, aber sukzessive voran. Gleichzeitig kann Kiew große Erfolge mit Militärschlägen tief in Russland vorweisen. Wie ist die Ausgangslage vor dem nächsten Kriegswinter?

Donald Trump, das Sanktionspaket der USA gegen Russland, das abgesagte Treffen des US-Präsidenten mit Kremlchef Wladimir Putin, Diskussionen über Waffenlieferungen. Das sind die zentralen Personen und Themen, die die vergangenen Wochen im Ukraine-Krieg geprägt haben. Drei Jahre und acht Monate nach Beginn des russischen Angriffs ist längst allen klar, dass nicht allein das Geschehen an der Front über das Schicksal der Ukrainer entscheiden wird. Dennoch sind aktuelle politische Entwicklungen rund um den Krieg immer auch im Kontext der Frontlage zu verstehen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj signalisiert seit geraumer Zeit Bereitschaft für ein persönliches Treffen mit Putin. Das Einfrieren der Front? Für Selenskyj mittlerweile ein "guter Kompromiss". Von einer Wiederherstellung der ukrainischen Grenzen vor der Krim-Annexion ist längst keine Rede mehr. Das entspricht der Entwicklung an der Front. Die Russen kommen zwar nur langsam voran, aber sie kommen voran.

"Grundsätzlich ist die Front relativ statisch, was die Raumgewinne beziehungsweise Raumverluste angeht. Sie ist aber unverändert umkämpft und wird auch zunehmend löchrig", sagt Militäranalyst Hendrik Remmel vom Bundeswehr-Thinktank German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) im ntv-Interview. "Das bedeutet, dass die ukrainischen Kräfte nach Jahren der Überdehnung und Abnutzung nur noch in Schwerpunkten verteidigen und keine durchgehende Verteidigung mehr gewährleisten können."

Dieser Umstand führe dazu, dass regelmäßig kleine russische Angriffsgruppierungen in den Rücken der ukrainischen Verteidiger vordringen können. "Das sind aber Initiativen, die auf taktischer Ebene, der niedrigsten militärischen Ebene, geplant und durchgeführt werden. Operativ ausnutzen können das die russischen Streitkräfte zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht. Deshalb ist die Front im Allgemeinen relativ stabil", fasst Remmel zusammen.

Ukraine befürchtet "besonders harten Winter"

Es gebe eine "fälschliche Vorstellung des Frontverlaufs", sagt Oberst Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer bei ntv. "Die Front ist keine durchgehende Linie von Stellungssystemen, die ineinander gestaffelt angelegt sind. Die Ukraine hat Stützpunkte angelegt, die sich mit großen Abständen zueinander im Gelände befinden. Ich nenne das Perlenkette. Und die Abstände zwischen diesen einzelnen Perlen, den einzelnen Stützpunkten, werden immer größer", erklärt Reisner.

Wer die aktuelle Lage in der Ukraine verstehen möchte, muss Hendrik Remmel zufolge zwei Dinge beachten: Große Raumgewinne haben die Kremltruppen nicht gemacht. So gesehen könne die russische Herbstoffensive als "gescheitert" betrachtet werden. Aber der Ansatz der Russen ist ohnehin längst ein anderer: Es geht seit geraumer Zeit weniger um schnelle Landgewinne, sondern um den längeren Atem. Moskau setze auf einen "kräfteorientierten Ansatz", macht der deutsche Militärbeobachter deutlich.

Wladimir Putin nimmt in Kauf, dass seine Armee an der Front besonders viele Soldaten verliert. Das Kalkül: Die Russen können blutige Scharmützel und hohe Verluste aber länger aushalten als die Ukrainer. Kiews Truppen stehen personell deutlich stärker unter Druck als die russischen Angreifer. Die ukrainische Armee versucht, mit möglichst geringem Personaleinsatz so gut es geht dagegenzuhalten. Aber langfristig sind die Russen im Vorteil.

Das Motto lautet aus Sicht der Russen: je mehr und je härter gekämpft wird, desto besser. Die russische Armee schickt besonders viele Soldaten an die Front, hat sehr hohe Feuerraten und will die Ukraine langfristig ermüden und in die Knie zwingen. Im Winter könnte Russland diese Zermürbungsstrategie auf die Spitze treiben. "Es ist davon auszugehen, dass es zu massiven russischen Luftangriffen kommen wird", sagt Reisner. "Die ukrainische Seite befürchtet, dass dieser Winter besonders hart wird."

Drohnenattacken der Ukraine

Doch wer denkt, aus Sicht der Russen läuft der Krieg inzwischen nach Plan, irrt trotzdem.

Die Ursache dafür finden Militärstrategen nicht an der Front. Aber ukrainische Militärschläge auf russischem Boden machen Putin zu schaffen, allen voran die anhaltenden Drohnenattacken.

Weil das Personal an der Front ausgeht, verfolgt die Ukraine seit einiger Zeit eine andere, weniger personalintensive Strategie. Die ukrainische Armee attackiert mit Drohnen wichtige Kommando- und Logistikpunkte der Russen sowie die kritische Energieinfrastruktur. Die Waffen, die inzwischen weit ins russische Hinterland reichen, setzen Moskau "nicht nur militärisch, sondern vor allem sozial, ökonomisch und politisch unter Druck", betont Militäranalyst Remmel.

Steigende Inflation, steigende Benzinpreise, angekündigte Mehrwertsteuererhöhung - die Lage in Russland ist angespannt. "Es gibt Indikatoren dafür, dass die Strategie der weitreichenden Schläge mit Präzisionswaffen, vor allem mit Drohnen, nach und nach Erfolg hat", so Remmel. "Wir sehen, dass es der russischen Wirtschaft wesentlich schlechter geht."

"Putin wird nicht abrücken"

Womöglich deshalb hat sich Putin zuletzt minimal nach vorne gewagt und zum ersten Mal den Hauch eines Kompromissvorschlags unterbreitet: Im Gegenzug für einen Waffenstillstand solle sich die Ukraine aus ihren Regionen Luhansk und Donezk vollständig zurückziehen, lautet die Forderung des Kremlchefs.

Beide Oblaste haben die Kremltruppen auch nach jahrelangen Kämpfen immer noch nicht vollständig erobert. Die größten Verteidigungsanlagen der Ukraine stehen hier noch immer - und sind ein wichtiger Schutzwall vor einem weiteren Vordringen der Russen. Ein freiwilliger Rückzug der Ukraine wäre militärstrategischer Selbstmord.

99 Prozent von Luhansk sind unter Kontrolle der Russen, außerdem etwa 75 Prozent von Donezk. Bleiben die Geländegewinne aber so gering wie zuletzt, würde Putin noch Jahre brauchen, um sich die gesamte Region einzuverleiben, sagt Remmel bei ntv. "Putin kann Donezk innerhalb der nächsten zwei, drei Monate nicht komplett freikämpfen. Das ist illusorisch."

Genauso illusorisch sei aber Putins "Kompromissangebot", argumentiert Remmel. "Putin wird von seinen großen strategischen Zielen nicht abrücken, auch wenn der Westen die Ukraine so weit unter Druck setzen sollte, dass Selenskyj die beiden Regionen Putin gibt."

China weiter auf russischer Seite

Dass es zeitnah ernsthafte Verhandlungen über einen Waffenstillstand gibt, ist angesichts dieser Lage nicht zu erwarten. Donald Trump hat das geplante zweite Treffen mit Wladimir Putin in Budapest abgesagt - der US-Präsident will keine Zeit verschwenden, wie er sagt. Die Gespräche mit seinem russischen Amtskollegen würden derzeit "nirgendwo hinführen". Damit ist ein Treffen zwischen Putin und Selenskyj zurzeit erst recht nicht denkbar.

Auch Reisner ist überzeugt davon, dass Putin den Krieg unter allen Umständen fortsetzen will. Wie es weitergeht, hänge maßgeblich von den jeweiligen Unterstützern der Kriegsparteien ab. Die USA spielen die Hauptrolle auf der ukrainischen Seite, China ist Russlands kräftigster Unterstützer.

Donald Trump würde sich am liebsten voll und ganz auf den geopolitischen Wettstreit mit China fokussieren. Deshalb gehen die USA aus Sicht von Reisner im Ukraine-Krieg "nicht bis zum Äußersten".

Das freut China. Aus Pekings Perspektive ist es gut, wenn der Krieg im Osten Europas noch lange weiterläuft und die Amerikaner hier weiter stark eingebunden sind. Solange können sich die USA schließlich nicht vollständig China zuwenden. Aus diesem Grund wird Putin weiter auf die Unterstützung seines chinesischen Amtskollegen Xi Jinping setzen können. "China setzt Russland im globalen Schachspiel mal als Dame, mal als Springer oder als Turm ein. Solange es in Pekings Interesse ist, wird Russland mit dem beliefert, was es für eine Fortsetzung des Kriegs braucht", analysiert Reisner im Interview mit ntv.de.

Das hilft dem Kremlchef, seinen Krieg fortzusetzen, der Ukraine einen "harten Winter" zu bescheren und das Nachbarland vollständig zu unterjochen. Dass sich Putin mit Luhansk und Donezk zufriedengeben wird, glauben jedenfalls die wenigsten Militärexperten und westlichen Politiker - Ukrainer schon gar nicht. Deshalb verteidigen sie die Front weiter bis zum Äußersten. Egal, wie löchrig sie ist.

"Wieder was gelernt"-Podcast

Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige. Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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Quelle: ntv.de

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