Politik

"Passportisierung" der Ukraine Russlands Krieg mit den Pässen

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Eine Frau bekommt im ukrainischen Cherson einen russischen Pass ausgehändigt.

(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)

Per Dekret verordnet Kremlchef Putin, dass alle Ukrainer schneller russische Staatsbürger werden können. Es ist die nächste Stufe in seinem Kampf gegen die Ukraine. Vor allem ist es ein weiterer Hinweis darauf, was Putin plant.

Es war alles schon vorbereitet. Ursprünglich planten die russischen Streitkräfte, innerhalb weniger Tage Kiew einzunehmen. Als die Kreml-Truppen sich von der belarussischen Grenze auf den Weg machten, hatten sie nicht nur Waffen im Gepäck, sondern auch eine große Zahl an vorgedruckten Pässen. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU hatte bereits Ende Juni vermeldet, dass sie zahlreiche solcher Sowjet-Pässe entdeckt hätten, die in der Region der ukrainischen Hauptstadt verteilt werden sollten.

Es kam anders: Die Ukraine wehrte die Offensive auf Kiew ab, der Krieg tobt nun vor allem im Süden und Osten des Landes. Was bleibt, ist ein weiteres Indiz dafür, was Russland Präsident Wladimir Putin in der Ukraine eigentlich plant. "Die Vordrucke zeugen davon, dass Moskau nicht nur die Selenskyj-Regierung stürzen und eine russlandfreundliche Regierung einsetzen wollte, sondern auch das Kiewer Gebiet russifiziert hätte, um sich damit dauerhaft Einfluss zu sichern", sagt Fabian Burkhardt vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung ntv.de.

Auch wenn die Eroberung Kiews zumindest vorerst gescheitert ist, hat der Kreml sich offenkundig nicht von seinen Zielen verabschiedet. Außenminister Sergej Lawrow sprach zuletzt von einer Ausweitung der geografischen Ziele über den Donbass hinaus. Sein Chef legte vor einigen Wochen dafür eine weitere Grundlage: Putin verkündete per Dekret, dass alle Ukrainer vereinfacht die russische Staatsbürgerschaft erhalten können. Der formale Akt soll nur noch wenige Monate statt bis zu acht Jahre dauern, damit möglichst viele Ukrainer bald Russen werden - auch wenn klar ist, dass die weitaus meisten Ukrainer daran keinerlei Interesse haben, sondern im Gegenteil auf einen Sieg ihres Landes hoffen.

Teil der russischen Kriegsführung

Burkhardt wertet die beschleunigte "Passportisierung" - also das Verteilen der Pässe - als Alarmsignal. "Es zeigt, dass Putins Ansprüche weit über die derzeit besetzten Gebiete hinausgehen", sagt er. Ähnlich wird es in Kiew registriert. Dmytro Kuleba, der ukrainische Außenminister, bezeichnete den Vorstoß als "einen weiteren Eingriff in die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine". Dieser sei mit den Normen und Grundsätzen des Völkerrechts unvereinbar. Das "wertlose" Dekret sei ein Beweis für "Putins aggressive Gelüste".

In der Ukraine haben sie Erfahrungen mit dieser Form der Kriegsführung. Für die Gebiete Donezk und Luhansk gab es 2019 innerhalb kurzer Zeit gleich zwei ähnliche Erlasse aus dem Kreml. "Putin hat die Reichweite bereits damals ausgeweitet", erklärt Burkhardt. "Der zweite Präsidialerlass bezog sich dann nicht nur auf die besetzten Teilgebiete, sondern die gesamten Gebiete Donezk und Luhansk." Damit also auch die Regionen, die unter Kontrolle der ukrainischen Regierung waren.

Der Ukraine hat das geschadet. Während die Krim 2014 annektiert wurde, blieben die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als ständiger Stachel formal in der Ukraine. So wurde nicht nur eine Konfliktlösung jahrelang blockiert, sondern auch ein angeblicher Kriegsgrund geschaffen: "Die passportisierten Ukrainer sind aus russischer Sicht militärisch schutzbedürftig, auch wenn sie international nicht als Staatsbürger Russlands anerkannt werden", erklärt Burkhardt. Denn die russische Militärdoktrin erwähnt explizit auch russische Staatsbürger, die im Ausland leben.

Erst der Donbass, nun die besetzten Gebiete

Dabei gibt es wenige Daten, wie viele Ukrainer einen russischen Pass bekommen haben. Ende 2021 waren es laut Burkhardt rund 600.000 aus den besetzen Gebieten Donezk und Luhansk, im Frühjahr dieses Jahres rund 800.000. "Das ging nicht von heute auf morgen", sagt der Politikwissenschaftler, "die Strategie hat längere Zeit gebraucht." Je näher jemand im Umfeld des Machtapparats war, desto höher war der Druck, dass die Personen auch einen russischen Pass bekommen. So konzentrierten sich die vom Kreml unterstützten Separatisten auf einzelne Berufsgruppen: etwa die Polizei, Lehrkräfte oder das Militär.

Es bedeutet zudem nicht, dass sich die Menschen mit den russischen Pässen auch unbedingt loyal zum Kreml verhalten. Im Donbass nahmen einige die Staatsbürgerschaft als eine Art "Überlebensstrategie" an - auch, weil sie sich wirtschaftliche Vorteile erhofften. Der Kreml versuchte, dieses System noch mit Anreizen wie Sozialleistungen zu verstärken. Doch weder die russische Rente noch eine einmalige Corona-Hilfe wurden wirklich ausgezahlt.

Die Ukraine kann der russischen Pass-Strategie wenig entgegensetzen. Wie die EU hat sie bereits angekündigt, die russischen Pässe nicht anzuerkennen. Doch darüber hinaus wird es kompliziert. Die Ukraine hat keinen direkten Zugriff auf die Gebiete und kann Russland nur schwer an dieser Politik hindern. Bereits nach 2019 zeigte sich, dass die Ukraine außer Verurteilungen oder die Forderung nach Sanktionen dem wenig entgegensetzen kann.

Nachhaltiger Einfluss

Auch deshalb treiben die russischen Streitkräfte die "Passportisierung" mittlerweile auch in den Bezirken Cherson und Saporischschja weiter voran. Nur sei die Resonanz in den besetzten Gebieten äußerst gering. "Es kann davon ausgegangen werden, dass das nicht freiwillig passiert", sagt Burkhardt. Selbst wenn es keinen unmittelbaren Zwang gebe, sorge die Kriegssituation dafür, dass es die Einbürgerung nicht aus freien Stücken erfolge.

Zusätzlich gibt es noch die berüchtigten Filtrationslager, in denen teilweise bereits in der Ukraine geprüft wird, wer Kontakt zu den Streitkräften hatte. Nach Schätzungen des britischen Geheimdiensts hat Russland etwa 2,5 Millionen Ukrainer "evakuiert". Viele davon seien in solchen Lagern gelandet. Dort soll es nach US-Angaben nicht nur Folter und Gewaltandrohungen geben, sondern sollen auch russische Pässe ausgeteilt werden.

Die Pässe sind Teil der großen Kreml-Kampagne, sich auf Jahre hinaus Einfluss in der Ukraine zu sichern - neben dem Militärischen. Nachdem das südukrainische Mariupol Ende Mai gefallen war, wurde ein großer Schriftzug mit dem Namen der Stadt in Weiß, Blau und Rot übermalt. Ukrainische Kinder müssen in den besetzten Gebieten mit russischen Schulbüchern lernen. Im Bezirk Charkiw hängen plötzlich Fahnen mit imperialistischen russischen Symbolen. Die "Passportisierung" sei ein eindeutiges Zeichen dafür, dass Russland die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine nicht respektiere, sagt Burkhardt. Denn damit habe der Kreml immer ein Instrument, um Ansprüche auf Gebiete zu erheben, die eigentlich von der Ukraine kontrolliert werden. "Das ist die wichtigste Aussage - vor allem mit Hinblick auf mögliche Friedensabkommen."

Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 21. Juli 2022.

(Dieser Artikel wurde am Samstag, 30. Juli 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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