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Gefährliche Rumänien-Grenze Ukrainer flüchten durch den Todesfluss in die EU

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Die Strömung macht die Theiß zu einem lebensgefährlichen Gewässer.

Die Strömung macht die Theiß zu einem lebensgefährlichen Gewässer.

(Foto: IMAGO/Pond5 Images)

Zwischen der Ukraine und Rumänien verläuft eine tödliche Grenze. Der Fluss Theiß trennt das kriegsgeplagte Land von der EU. Ukrainische Männer durchqueren den Fluss, um nicht an die Front zu müssen. Viele bezahlen die Flucht mit dem Leben.

Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 dürfen ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren ihr Land nicht mehr verlassen. Zumindest nicht auf legale Weise, denn sie werden für den Dienst an der Front benötigt. Doch insbesondere junge Ukrainer ergreifen vermehrt die Flucht. Einige von ihnen versuchen, in die EU zu schwimmen: Auf etwa 65 Kilometern Länge bildet die Theiß eine natürliche Grenze zwischen der Ukraine und Rumänien - die schnelle Strömung und das eiskalte Wasser machen den Fluss zum lebensgefährlichen Strom.

Seit Februar 2022 sind bereits 33 Ukrainer in der Theiß beim Versuch ertrunken, nach Rumänien zu schwimmen. Das jüngste Opfer war gerade mal 20 Jahre alt. Die Dunkelziffer der Ertrunkenen ist vermutlich deutlich höher. Der ukrainische Grenzschutz geht davon aus, dass etliche Leichen bislang nicht geborgen wurden, weil sie im Schilf unter Wasser feststecken und nicht an die Oberfläche getrieben werden.

Auch der 24 Jahre junge Ingenieur Matviy wäre fast in der Theiß ertrunken. Zusammen mit drei Mitstreitern ist er vor Kurzem ebenfalls nach Rumänien geflüchtet. Sie hätten die Gefahren des Flusses deutlich unterschätzt, berichtet Matviy im britischen "Economist". Die schnelle Strömung habe selbst den besten Schwimmer der Gruppe 200 Meter flussabwärts getrieben, zwei andere wurden sogar 400 Meter weggetrieben. "Wir konnten kaum noch atmen. Wir wären fast ertrunken", erzählt Matviy dem Magazin.

Schlepper nehmen Tausende Euro

Für die meisten ukrainischen Männer ist die Theiß trotzdem die simpelste Fluchtmöglichkeit. Trotz der Gefahren ist der Fluss im Verlauf der vergangenen zwei Jahre zu einem hochfrequentierten Ziel für den Grenzübertritt geworden. Und das, obwohl die Behörden inzwischen damit begonnen haben, zur Abschreckung Bilder von den Ertrunkenen zu veröffentlichen. "Die wachsende Angst vor der Einberufung und das Versprechen auf ein besseres Leben in Europa" seien aber stärker, fasst der "Economist" zusammen.

Insgesamt habe man durch den Fluss und auf anderen Wegen in den ersten drei Monaten dieses Jahres fast 2400 illegale Grenzübertritte aus der Ukraine erfasst, berichtet die rumänische Seite. Die meisten illegalen Grenzübertritte werden demnach in den gebirgigen Unterkarpaten verzeichnet, wo sich schon vor dem Krieg eine umtriebige Schmuggler-Szene gebildet hatte und viele Menschen von unverzollten Zigaretten, Benzin und anderen Dingen leben.

Durch den Krieg in der Ukraine haben die Kleinkriminellen ihr Geschäft um Schlepperangebote erweitert. Derartige Dienste kosten 3000 bis 12.000 Euro, wie der "Economist" berichtet. Matviy, der 24-jährige Ingenieur, der durch die Theiß geschwommen ist, habe etwa 5000 Dollar für den lebensgefährlichen Trip durch den Fluss nach Rumänien gezahlt, berichtet er im Interview.

Korruption in Rekrutierungszentren

Die Angst vor dem Krieg oder der Wunsch nach einem friedlichen Leben in der EU treibt viele ukrainische Männer aus dem Land. Und ein Gefühl der Ungerechtigkeit, wie ein Wehrdienstverweigerer im vergangenen Herbst im Gespräch mit ntv-Reporterin Kavita Sharma erzählt hat. "Die Reichen sind ins Ausland geflohen oder kaufen sich frei und sitzen in Kiew. Nur die Armen sind an der Front", behauptet der Wehrdienstverweigerer namens Viktor und nimmt Bezug auf Korruptionsfälle in den Rekrutierungszentren. Durch Schmiergeldzahlungen hatten sich Männer ausmustern lassen, in der Folge entließ Präsident Wolodymyr Selenskyj die Chefs aller Rekrutierungszentren.

Selenskyj reagierte zudem mit einer Initiative, Korruption in Kriegszeiten künftig so hart zu bestrafen wie Landesverrat. Die Regelung soll für den Zeitraum des Krieges gelten. Niemand sollte auch nur daran denken, Schmiergeld anzunehmen. Wenn es Beweise für Korruption gebe, müsse eine Gefängnisstrafe folgen, forderte der Präsident. "Wenn Korruption in Kriegszeiten mit Verrat gleichgesetzt wird, kann dies ein sehr ernst zu nehmendes Werkzeug sein, um nicht einmal darüber nachzudenken, korrupt zu werden", argumentierte Selenskyj voriges Jahr.

Flüchtlinge werden meist vor der Theiß gestoppt

Bislang ist das ukrainische Parlament dem Vorschlag des Präsidenten nicht gefolgt. Es ist aber inzwischen deutlich komplizierter geworden, die Grenze in die EU zu überqueren. Die Regierung in Kiew hat Einheiten der Nationalgarde in die Region entsendet und Kontrollpunkte deutlich verstärkt. Eine Sprecherin des ukrainischen Grenzschutzes sagt, statistisch betrachtet, würden im Schnitt sieben von zehn Flüchtlingen gestoppt, bevor sie den Fluss überhaupt erreichen.

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Unter diesen Umständen nehmen einige Flüchtlinge mit Schlepper-Hilfe die deutlich längere Bergroute nach Rumänien auf sich. Andere wiederum schwören nach wie vor auf den Fluss als sichersten und unkompliziertesten Weg von einem Land ins andere. "Man muss nur die richtigen Stellen kennen", erzählt ein Schlepper namens Vasyl dem "Economist" und ergänzt: "Ich kann Ihnen zeigen, wo Sie den Fluss überqueren können, ohne sich die Eier nass zu machen."

Mit diesen Kenntnissen locken die Schlepper Wehrdienstverweigerer, kriegsmüde oder aus anderen Gründen ausreisewillige Ukrainer und kassieren viel Geld. Durch den Fluss schwimmen müssen die Ukrainer aber natürlich ganz alleine - meistens im Schutz der Dunkelheit, wenn die Strömung der Theiß noch gefährlicher ist.

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Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?

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Quelle: ntv.de

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