Putins Überfall auf die Ukraine "Waffenlieferungen sind keine Lösung" und andere Irrtümer
15.06.2022, 17:12 Uhr
In einem Wald bei Butscha werden noch immer Leichen von Zivilisten exhumiert.
(Foto: picture alliance / Kyodo)
Gegen Waffenlieferungen an die Ukraine werden viele Argumente vorgebracht. Stichhaltig sind sie nur dann, wenn man unterstellt, dass die Ukraine ohnehin nicht zu retten ist. Und dass Putin sich nach einem Sieg zufriedengeben wird. Eine Übersicht über die gängigsten Talkshow-Thesen der Waffenlieferungsskeptiker.
"Waffenlieferungen sind keine Lösung"
Die Frage ist, was mit "Lösung" gemeint ist. Wenn das westliche, auch das deutsche, Ziel in diesem Krieg ist, dass die Ukraine nicht verliert und Russland nicht gewinnt, dann braucht die ukrainische Armee Waffen. Für den grundlegenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sowie zwischen Russland und dem Westen ist damit natürlich noch keine "Lösung" erreicht. Darum geht es derzeit aber auch nicht. Aktuell lautet das Ziel, die Existenz der Ukraine zu bewahren, alles andere kommt später.
"Wir sprechen zu wenig über diplomatische Lösungen"
Dieser Satz ist häufig in Talkshows zu hören, er ist mehr ein Signal als wirklich wörtlich zu nehmen. Signalisieren soll er: Ich finde Krieg blöd und habe Schwierigkeiten mit Waffenlieferungen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Problematisch wird es, sobald daraus eine politische Forderung oder gar ein Vorwurf wird. Denn natürlich gibt es keinen Mangel an Gesprächen: Die Ukraine tauscht mit Russland beispielsweise Kriegsgefangene und Tote aus - ohne Verhandlungen wäre das nicht möglich. Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron telefonieren so viel mit Putin, dass ihnen schon vorgeworfen wird, sie hofierten einen Schlächter.
"Der Krieg wird ohnehin mit einer Verhandlungslösung enden"
Die meisten Kriege enden, "weil die Konfliktparteien es sich nicht mehr leisten können, den Konflikt weiterzuführen, und weil sie die Hoffnung aufgeben, den Konflikt auf dem Schlachtfeld entscheiden zu können", sagt die Friedensforscherin Nicole Deitelhoff. "Dann kommt es zu Verhandlungen." Die Betonung liegt auf "dann". Dieser Punkt ist noch nicht erreicht, nicht für die Ukraine, die nicht aus einer Position der Schwäche heraus verhandeln will, und schon gar nicht für Putin, dem das bisher eroberte Territorium offenkundig nicht reicht. Wer in dieser Situation von der Ukraine oder gar vom Westen eine Verhandlungslösung fordert, argumentiert in einer fiktiven Realität.
"Nötig ist ein Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können"
Das ist eine Selbstverständlichkeit, denn sonst endet der Krieg allenfalls vorläufig. "Das Ziel des Westens sollte sein, dass Russland seine Kriegsziele nicht durchsetzen kann, dass Russland an den Verhandlungstisch zurückkehrt und dass die Ukraine in ihren Grenzen vom Februar wiederhergestellt wird", sagt Deitelhoff, und genau das ist das erklärte Ziel von US-Präsident Joe Biden. Aber: Zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können, gehört, dass die Ukraine überlebt und überlebensfähig bleibt. Putins Ziel scheint eher das Gegenteil zu sein: Er will die Ukraine zerstören, weil sie aus seiner Sicht ohnehin kein Existenzrecht hat. Solange er dieses Ziel nicht aufgibt, gibt es für die Ukraine keinen "Kompromiss".
"Russland hat in der Ukraine legitime Interessen"
Putin hat die NATO-Osterweiterungen mehrfach als Kriegsgrund genannt, ohnehin stellt er Russland häufig als ewiges Opfer des Westens dar. Ob die NATO ihn durch Zugeständnisse vom Überfall auf das Nachbarland hätte abhalten können, indem sie offiziell erklärt hätte, dass die Ukraine niemals Mitglied des Bündnisses werden wird, ist pure Spekulation. Wahrscheinlich ist das indessen nicht: Russlands Forderungen an die NATO gingen weit über einen Verzicht auf den ukrainischen NATO-Beitritt hinaus, sie schlossen einen Rückzug der militärischen NATO-Infrastruktur aus ganz Osteuropa ein.
Keine Spekulation ist, was Putin sagt und was seine Propaganda verbreitet: Die Ukraine habe "im Grunde nie eine gefestigte Tradition einer eigenen authentischen Staatlichkeit" gehabt, behauptete er in seiner Rede drei Tage vor der Invasion. Der Kreml-Chef will nicht in erster Linie die NATO zurückdrängen, er will das Russische Reich wiederherstellen. "Putin sieht sich tatsächlich als Vollstrecker einer historischen Mission", sagt die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies, die davon ausgeht, dass er "die Ukraine als Staat und Nation" zerstören will. Kurzum: Putin hat keine "legitimen Interessen" in der Ukraine, ihm geht es um "die Wiederherstellung eines Imperiums".
"Aber die Biowaffenlabore"
Die angebliche Existenz von Biowaffenlaboren wird gelegentlich erwähnt, um implizit zu unterstellen, dass Russland doch einen legitimen Kriegsgrund hatte - mindestens aber, um das ewige Argument vorzubringen, die USA seien ja eigentlich noch schlimmer als Russland. Als Beweis gilt ein Auftritt der US-Diplomatin Victoria Nuland vor einem Senatsausschuss, wo sie sich besorgt zeigte, dass biologische Forschungslabore in der Ukraine in russische Hände geraten könnten. Der investigative US-Journalist Glenn Greenwald folgerte daraus, Nuland habe aus Versehen die Wahrheit gesagt und machte sich über Faktenchecker lustig, die darauf hinwiesen, dass sie keineswegs von Biowaffenlaboren gesprochen hatte. Als legitimes Kriegsziel taugt diese Theorie nur, wenn man das unbedingt möchte, und Greenwald selbst argumentiert auch nicht so. Auch Putin hat Biowaffenlabore in seinen Kriegsreden am 21. und 24. Februar nicht erwähnt, obwohl er darin alles Mögliche aufzählt, um die Invasion zu rechtfertigen.
"Waffenlieferungen erhöhen das Risiko eines Dritten Weltkriegs"
Natürlich möchten alle Beteiligten einen Dritten Weltkrieg vermeiden - weswegen US-Präsident Biden es ausschließt, eigene Truppen in die Ukraine zu schicken oder eine Flugverbotszone über dem Land durchzusetzen. Aber erhöhen nicht auch Waffenlieferungen das Risiko? Schaut man ins Völkerrecht, ist die Lage eindeutig: Es erlaubt, einem völkerrechtswidrig angegriffen Land zu helfen, auch mit Waffen. Dabei wird übrigens kein Unterschied zwischen schwer und leicht gemacht. Es ist auch nicht besonders wahrscheinlich, dass Russland nun neben der Ukraine auch noch einen anderen Staat angreift. Denn schon der jetzige Feldzug bringt die Armee an ihre Grenzen.
Niemand kann ausschließen, dass Putin nicht doch zu Atomwaffen greift, weil er sich provoziert fühlt. Aber klug oder auch nur wahrscheinlich ist das nicht. Zunächst einmal sieht die russische Militärdoktrin deren Einsatz nur für die eigene Landesverteidigung vor. Sollte Putin sie in der Ukraine einsetzen, könnte die NATO doch in den Krieg eintreten, China könnte sich abwenden. Es wäre sein eigenes Ende. Und dann ist da noch das andere Argument: Die Gefahr eines Dritten Weltkrieg könnte sich erhöhen, wenn keine Waffen geliefert werden. Weil Putin dann ermutigt würde, sich ein altes Sowjet-Gebiet nach dem anderen zurückzuholen und die NATO selbst angreift.
"Waffenlieferungen verlängern den Krieg"
In sich ist die Aussage schlüssig: Wer der Ukraine hilft, sich zu verteidigen, verlängert den Krieg - denn sonst hätte sie viel schneller verloren. Interessant wird es, wenn man sich die Annahmen dahinter anschaut: Die eine ist, dass die Niederlage der Ukraine ohnehin unvermeidlich sein soll. Statt dass sie heute verliert, verliert sie erst übermorgen, nur dass es viel mehr Todesopfer gibt. Dass Russland auf jeden Fall gewinnt, ist aber keineswegs ausgemacht. Es kann so oder so ausgehen.
Die andere Annahme ist, dass jeder Frieden besser wäre als ein Krieg. Nach den Massakern in Butscha und anderswo kann man das aber nicht mehr einfach so bejahen. Zumal es nicht einmal nur darum geht, Morde an Zivilisten zu verhindern. Es geht um den Fortbestand der Ukraine an sich. Die Ukrainer kämpfen dafür, Ukrainer bleiben zu dürfen und nicht Russen werden zu müssen. Es geht um den Fortbestand ihres Staates, ihrer Nation, ihres kulturellen Erbes - all dies will Russland vernichten. Wer sagt, jeder Frieden ist besser als Krieg, sagt auch, dass niemand für seine Freiheit kämpfen sollte.
Dann gibt es noch den Vorwurf, Waffenlieferungen befeuerten Rückeroberungspläne Selenskyjs, zum Beispiel der Krim. Sollte die Ukraine tatsächlich versuchen, die Halbinsel zurückzuerobern, droht ein Blutbad, denn sie ist schwer zugänglich und damit leicht zu verteidigen. Selenskyj hat gerade erst gesagt, dass er genau das vorhat. Die Frage ist, wie ernst er das meint. Wahrscheinlicher ist, dass er die Krim für Verhandlungen verwenden will. Denn der Präsident hat auch gesagt, dass der Krieg mit Verhandlungen enden werde.
Quelle: ntv.de