
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verspricht seinen Landsleuten, das gesamte Territorium zurückzuerobern.
(Foto: Natacha Pisarenko/AP/dpa)
Im Ukraine-Krieg rückt die russische Armee langsam aber sicher vor. Von einer Gegenoffensive ist wenig zu spüren. Insofern irritiert es, dass Präsident Selenskyj ausgerechnet jetzt verspricht, das gesamte Territorium zurückzuerobern. Meint er das ernst?
Sjewjerodonezk heißt die Stadt, die gerade die Schlagzeilen aus der Ukraine bestimmt. Sie ist die letzte Großstadt in der sogenannten Volksrepublik Luhansk, die noch unter Kontrolle der Regierung in Kiew war. Doch damit ist es mittlerweile vorbei. Zivilisten und letzte Soldaten haben sich zwar in einem Chemiewerk verschanzt, aber das wird nichts daran ändern, dass die Russen die Stadt kontrollieren. Der Fall der Stadt ist symptomatisch für die zweite Phase des Krieges. Nach den desaströsen ersten Wochen läuft es besser für die Russen. Sie spielen nun ihre Überlegenheit besser aus.
Die Ukraine ist in der Defensive und fordert den Westen - und damit auch Deutschland - auf, schneller schwere Waffen zu liefern. Gerade Artillerie und Panzer werden benötigt. Der US-Analyst Michael Kofman spricht gar von einer entscheidenden Phase des Krieges. Beide Seiten seien erschöpft und es sei höchst unwahrscheinlich, dass die Ukraine in die Gegenoffensive gehen werde. Militärexperte Carlo Masala von der Bundeswehr-Uni München sagt bei "The Pioneer", es sei "undenkbar", dass die Ukraine die Russen militärisch ganz aus dem Land vertreibe. Da überrascht es, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ausgerechnet jetzt große Ankündigungen macht. In seiner Videoansprache kündigte er am Montagabend an, man werde das gesamte Territorium zurückerobern, inklusive der Krim, wie er ausdrücklich sagte. Die ukrainische Flagge werde wieder über Jalta und Sudak wehen. "Natürlich werden wir auch unsere Krim befreien."
Das wirkt dann doch überraschend optimistisch. Doch es gibt mehrere Gründe, die Selenskyjs Verhalten erklären. "Er hat nach Butscha und Mariupol gar keine andere Möglichkeit", meint etwa der deutsche Ukraine-Experte Andreas Umland vom Stockholmer Zentrum für Osteuropa-Studien (SCEEUS). Damit spielt er auf die blutige Besatzung in dem Kiewer Vorort und den gnadenlosen Artilleriebeschuss der Stadt am Schwarzen Meer an. "Es ist für ihn gar nicht mehr möglich, Russland ukrainisches Territorium zu überlassen", sagt Umland ntv.de. "Das wäre der ukrainischen Gesellschaft nicht mehr vermittelbar."
Russland wird Krim nicht mehr hergeben
Er glaubt allerdings nicht unbedingt, dass Selenskyj darauf bestehen wird, die Krim tatsächlich zurückzuerobern. "Ich vermute, dass auch intern gesehen wird, dass sich die Ukraine auf Kompromisslösungen einlassen muss." Das bezieht der Experte jedoch neben der Halbinsel nur auf die sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk. "Aber was die neu eroberten Gebiete angeht, etwa Saporischschja und Cherson, da muss man das schon ernst nehmen." Zeigte sich Selenskyj kompromissbereit, wäre die Botschaft: "Ich erkläre mich bereit, Territorium an ein Land zu übergeben, das Zivilisten ermordet, verstümmelt, einsperrt und deportiert." Umland wundert es, dass es so ein hartes Besatzungsregime gegeben hat. "Es nimmt Verhandlungen jeglichen Raum."
Russland werde die Krim auch gar nicht mehr hergeben, meint die britische Politologin Aglaya Snetkov vom renommierten University College London. "Putin hat zwar eine erstaunliche Fähigkeit, der russischen Öffentlichkeit alles Mögliche zu verkaufen. Aber ich glaube nicht, dass er einen Verlust der Krim rechtfertigen könnte", sagt sie ntv.de. Denn auch wenn sich früher kaum jemand für die Krim interessiert habe, betrachteten die Russen die Halbinsel mittlerweile als Teil ihres Landes. Das sei Putins Werk - nach den Protesten im Jahr 2012 habe er die Annexion genutzt, um sich beim Volk beliebt zu machen. Da könne er sie nicht wieder hergeben.
Auch Snetkov geht davon aus, dass Selenskyj das sagt, was die ukrainische Öffentlichkeit hören will. Es gehe aber auch darum, sich weiter die Aufmerksamkeit der Welt zu sichern, meint sie. Darin sei er in den vergangenen drei Monaten unglaublich gut gewesen: "Er schaffte es, Schlagzeilen zu machen und die Ukraine in den Nachrichten zu halten." Das sei von entscheidender Bedeutung, denn Kriege endeten häufig damit, dass erst die Aufmerksamkeit im Westen nachlasse und dann Verhandlungen aufgenommen würden, die zu irgendwelchen Kompromissen führten. So wie 2014. Nach der Annexion der Krim ließ das Interesse an dem Krieg im Westen schnell nach, obwohl der Waffenstillstand ständig gebrochen wurde. Waffen bekam die Ukraine auch nicht. Selenskyjs Botschaft sei nun: "Vergesst uns nicht, unterstützt uns weiter!"
Geht es um Verhandlungen?
Manfred Sapper von der Fachzeitschrift "Osteuropa" sieht noch einen weiteren Aspekt: Es gehe auch darum, den Preis für Verhandlungen hochzutreiben. "Die Forderung nach Wiedergewinnung ist sicherlich ein taktisches Kalkül, um den Preis für irgendeinen Kompromiss hochzusetzen", sagt er im Gespräch mit ntv.de. Dass es der Ukraine gelingen könnte, die Krim militärisch zurückzuerobern, hält Sapper ebenfalls nicht für realistisch. "Die Krim sollte man ausklammern und als Problem behandeln, über das man sich auch in 20 oder 50 Jahren unterhalten kann."
Aber auch für Sapper ist Selenskyjs Botschaft nach innen gerichtet. In den ersten Monaten sei es ihm "blendend" gelungen, den Kampf um die öffentliche Meinung zu gewinnen. Damit sei er das Gegenmodell "zu diesem maskenartigen Putin, der sich aus Unsicherheit an seinen sechs Meter langen Tisch krallt." Der Präsident müsse Maximalpositionen vertreten, um zu zeigen, wofür die ukrainische Gesellschaft und ihre Soldaten kämpfen. "Selenskyj ist seit Kriegsbeginn das Rückgrat der ukrainischen Verteidigungsbereitschaft."
Medienberichten zufolge wollen Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der italienische Premier Mario Draghi diese Woche nach Kiew reisen. Wollte Selenskyj auch ein Signal an diese drei senden? Sapper geht davon aus, dass man die Rede im Kanzleramt "sehr genau registriert" habe. "Diese Troika" habe das Interesse, "den akuten Krieg möglichst bald zu beenden. Es ist die Frage, ob es so etwas wie einen Waffenstillstand Minsk 3 geben könnte. Falls Selenskyj das befürchtet, hätte er ein klares Zeichen dagegen gesetzt". Andreas Umland glaubt nicht, dass so etwas noch möglich wäre. Im März habe es noch Verhandlungsbereitschaft gegeben. Jetzt hätten sich die Positionen aber verhärtet. "Man kann nur hoffen, dass Scholz das auch versteht", so Umland. "Dass das kein ukrainischer Ethno-Nationalismus ist, sondern eine erzwungene Position."
Quelle: ntv.de