Wahl in Großbritannien Labour verdoppelt, Tories "ausradiert"
05.07.2024, 11:55 Uhr Artikel anhören
Es gibt einen neuen Bewohner in der Downing Street.
(Foto: REUTERS)
Machtwechsel in Großbritannien: Labour siegt mit deutlichem Abstand, die Konservativen erleiden die härteste Niederlage ihrer Geschichte. Der Rechtspopulist Nigel Farage schafft den Sprung ins Unterhaus und kündigt eine "nationale Massenbewegung" an.
Bei der Unterhauswahl in Großbritannien hat die Labour-Partei einen deutlichen Wahlsieg errungen. Die sozialdemokratische Partei konnte die Zahl ihrer Mandate mehr als verdoppeln, die konservativen Tories dagegen wurden auf ein Drittel ihrer bisherigen Abgeordneten reduziert. Britische Medien sprechen von einem "wipeout" der Tories. Soll heißen: Die Konservativen wurden ausradiert. Ganz stimmt das nicht, auch im neuen Unterhaus wird es Tory-Abgeordnete geben. Aber es ist das schlechteste Wahlergebnis in ihrer 190-jährigen Geschichte.
Drastisch hinzugewonnen haben die Liberaldemokraten, sie gewannen 63 Wahlkreise hinzu und haben im neuen Unterhaus nun 71 Sitze. Einer könnte noch dazukommen: Im schottischen Wahlkreis Inverness, Skye and West Rossshire ist es so knapp, dass morgen noch einmal ausgezählt werden soll. Ihren Stimmenanteil erhöhten die Liberaldemokraten insgesamt kaum - ähnlich ist es bei der Labour-Partei. Erklärbar ist das mit dem britischen Mehrheitswahlrecht. Wer Abgeordneter werden will, muss seinen Wahlkreis gewinnen. Die landesweit erreichten Prozente einer Partei spielen für die Mehrheiten im Parlament keine Rolle.
Die walisische Regionalpartei Plaid Cymru verdoppelte die Zahl ihrer Mandate von zwei auf vier - das bisher beste Ergebnis von Plaid Cymru. Dagegen hat die schottische SNP, die sich für die Unabhängigkeit Schottlands einsetzt, dramatisch an Sitzen eingebüßt, sie wurde auf neun Abgeordnete gestutzt (es sei denn, sie gewinnt noch Inverness, Skye and West Rossshire). Auch in Schottland war die Labour-Partei vorn.
Die Grünen gewannen vier Wahlkreise, drei mehr als bei der Wahl 2019. Insgesamt entfielen auf die Grünen 6,8 Prozent der Stimmen.
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat eine Partei nur ein einziges Mal mehr Sitze bei einer Unterhauswahl im Königreich geholt als Labour heute. Auch damals war es Labour: 1997, beim historischen Sieg unter dem damaligen Parteichef Tony Blair. Der Abstand zu den Konservativen war seinerzeit allerdings nicht so groß, die holten damals immerhin 165 Sitze.
"Im ganzen Land sind die Menschen erleichtert"
Labour-Chef Keir Starmer wird nun, wie erwartet, neuer britischer Premier. Nach seinem Wahlsieg versprach der den Briten einen Neustart für das Land. "Der Wandel beginnt jetzt", rief Starmer in London jubelnden Anhängern zu. "Im ganzen Land werden die Menschen zu der Nachricht aufwachen, erleichtert, dass eine Last von ihren Schultern genommen wurde."
Beobachter sind sich einig, dass die Wähler nicht aus Begeisterung für Labour oder Starmer den Regierungswechsel herbeigeführt haben, sondern weil sie die Nase voll hatten von den seit Jahren chaotisch agierenden Konservativen. Starmer sagte: "Wahlsiege fallen nicht vom Himmel - sie sind hart erkämpft." Der Erfolg sei nur möglich gewesen, weil er die Partei verändert habe. Die Briten hätten gesehen, dass Labour ihren Interessen diene. "Und das hört jetzt nicht auf."
Sunak gratuliert, Farage kündigt Jagd auf Labour-Stimmen an
Der abgewählte Premierminister Rishi Sunak gestand seine Niederlage ein. Die Labour-Partei habe gewonnen und er habe Starmer telefonisch zum Sieg gratuliert, sagte er in seinem Wahlkreis. "Heute wird die Macht auf friedliche und geordnete Weise und mit gutem Willen auf allen Seiten übergeben. Das sollte uns allen Vertrauen in die Stabilität und die Zukunft unseres Landes geben." Sunak hatte die Wahl vor sechs Wochen angesetzt - offenbar in dem falschen Glauben, jetzt eine bessere Chance zu haben.
In das Unterhaus zieht auch der Brexit-Verfechter Nigel Farage ein. Es war bereits sein achter Versuch, ins Parlament zu kommen. Sein Plan sei es, im Laufe der kommenden Jahre eine "nationale Massenbewegung" aufzubauen, sagte Farage nach dem Gewinn seines Mandats. Er wolle nun Labour Stimmen "abjagen".
Insgesamt kam die Farage-Partei "Reform UK" auf 4 Sitze. Nachwahlbefragungen hatten die Partei deutlich stärker gesehen. Prozentual erhielten die Rechtspopulisten 14,3 Prozent der Stimmen.
Heute Mittag beim König
Dem traditionellen Ablauf der Übergabe der Regierungsgeschäfte entsprechend wird Labour-Chef Starmer sich noch heute zur Downing Street Nummer 10 begeben, wo er eine Rede halten wird. Anschließend wird er hinter der berühmten schwarzen Tür Mitarbeiter treffen und begrüßen. Gegen Freitagmittag dürfte König Charles III. Starmer offiziell mit der Regierungsbildung beauftragen.
Bereits am kommenden Dienstag hat Starmer sein Debüt auf der internationalen Bühne. Dann findet in Washington der NATO-Gipfel zum 75-jährigen Bestehen des Bündnisses statt. Dies könnte eine Möglichkeit sein, mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und US-Präsident Joe Biden zu sprechen. Labour hat erklärt, die britische Unterstützung für die von Russland angegriffene Ukraine aufrechtzuerhalten und die Militärausgaben zu erhöhen.
Thronrede in knapp zwei Wochen
Am 9. Juli werden die Abgeordneten des neuen Parlaments vereidigt, am 17. Juli wird es mit der Thronrede offiziell eröffnet. Die Rede wird zwar vom König gehalten, aber von der Regierung verfasst. Es ist die Gelegenheit für die neue Regierungspartei, ihre Schwerpunkte in Westminster darzulegen.
Am 18. Juli wird Starmer die Staats- und Regierungschefs Europas in England im Blenheim-Palace, dem Geburtsort von Winston Churchill, zu einem Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft begrüßen. Diese war 2022 mit dem Ziel gegründet worden, den Zusammenhalt, die Zusammenarbeit und den Dialog zwischen den Ländern des Kontinents zu stärken. Starmer hat angekündigt, die Vereinbarungen mit der EU nach dem Brexit zu verbessern. Eine Rückkehr in die EU plant er nicht.
Quelle: ntv.de, hvo/AFP/dpa