Eine Stunde mit der AltkanzlerinWarum Angela Merkel eine "große Schlacht" mit den USA prophezeit

Viermal haben die Deutschen Angela Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt, in der eigenen Partei hadern trotzdem viele mit ihr. Bei einer Veranstaltung des "Stern" rückt sie ein paar Dinge gerade - und spricht über ihr größtes Versäumnis.
Da ist sie, sofort wiedererkannt. Und Angela Merkel ist gleich ein klitzekleines bisschen genervt von diesem Thema: Kann sie nicht loslassen? "Ich habe nicht die geringsten Schwierigkeiten, dass ich nicht mehr gestalten kann", antwortet die Alt-Kanzlerin. Und dann noch einmal Merkel, klassischer Stil: "Ich war ja von 1990 an ziemlich beschäftigt." Lachen im Publikum. Ja, der war nicht schlecht.
Und doch gibt es viele, gerade in ihrer Partei, der CDU, die sich weniger öffentliche Reden von ihr wünschen. Weniger, so heißt es dann, Einmischung der Alt-Kanzlerin. Mancher wird auch diesen Abend wieder kritisch beäugt haben. Warum tritt sie immer wieder auf? Warum liest sich nicht Bücher im Garten? Pflanzt? Reist? Jede ihrer Äußerungen werde doch seziert auf Kritik an ihrem Nachfolger, an Friedrich Merz.
Angela Merkel ist an diesem Donnerstagabend zur STERN STUNDE in Berlin gekommen. Eine Stunde spricht sie in der Bertelsmann-Repräsentanz mit Stern-Chefredakteur Gregor Peter Schmitz und sie denkt offenkundig gar nicht daran, sich für irgendwen sonderlich zurückzunehmen. "Ich bleibe ein politisches Wesen – ich kann das nicht abschütteln", sagt die Alt-Kanzlerin. Sie müsse schon sprechen dürfen über ihre Zeit als Regierungschefin. "Fröhlich und frei." Das sei doch keine Einmischung. Ihr öffentliches Programm? "Wohldosiert."
Man spürt das: Angela Merkel hat Freude an diesen Auftritten. Sie ist offenbar im Reinen mit sich, jedenfalls größtenteils, und mag schon auch manches richtigstellen. Das geht ja jetzt als Frau ohne Kanzlerinnenkostüm, als Angela Merkel, 71, im mintgrünen Blaser.
Kohls Mädchen? Mutti Merkel? "Ich würde gern als Unikat dargestellt werden." Die Merkel-Raute? Mache sie "eigentlich nicht mehr". Sie entdecke sie jetzt aber häufiger bei anderen. "Da muss ich immer scharf gucken." Lachen im Publikum. Ihre Unbeschwertheit steckt an. Eine Reise zurück, als alles noch so einfach schien – und längst nicht mehr war.
Kämpferin in eigener Sache
Sie tritt an solchen Abenden, keine Frage, als Kämpferin in eigener Sache auf. Ihre Partei tut viel dafür, sich von ihr zu distanzieren. Wo Merkels Name fällt, ist das Wort Fehler nicht weit. Zu linke Asylpolitik, zu wenige Reformen, zu viel Atomausstieg, zu viel Klimapolitik, kurzum: kaum konservativ. Und das mag sie so wirklich nicht stehen lassen. Rente mit 67? Sie. Mehrwertsteuererhöhung? Auch sie. Kitaplatzanspruch? Merkel. Forschungsinvestitionen? Hat sie, die Physikerin, immer für gekämpft. Atomkraft? Sei nicht grundsätzlich schlecht. Und die Russlandpolitik? "Ich habe sehr früh gesehen, dass Putin keine guten Absichten hatte." Nebenher habe sie ja noch einige Krisen bewältigt: zuerst die Eurokrise, zum Schluss die Pandemie. "Man kann nicht alles parallel machen."
Dann hält sie kurz inne. "Wenn ich mich frage, wo war zu wenig Herzblut?", befragt sie sich selbst. "Dann war das beim Thema Klima." Da sei sie den Ansprüchen nicht geredet geworden, das hätten ihr Luisa Neubauer oder Greta Thunberg zurecht vorgehalten. Und dann hat sie doch noch eine Botschaft an die Politikergeneration nach ihr: "Es ist gespenstisch, wie wenig wir heute über Klimaschutz sprechen." Das Thema sei "wie weggeblasen", sagt sie. "Dabei war es noch nie so kritisch wie heute."
Freudensprünge ein paar Kilometer weiter, in der CDU-Parteizentrale.
Merkel wirkt ganz ähnlich unzufrieden mit der aktuellen Debatte ihrer Union um den Umgang mit der AfD. Sie verteidigt ihre Intervention rund um die gemeinsame Abstimmung der Union mit der AfD im Bundestagswahlkampf. Das habe sie für "staatspolitisch geboten" gehalten – und tue das weiter. Merkel verteidigt auch ihren eigenen Kurs der totalen Ausgrenzung der AfD von Beginn an. War das nicht anfangs eine harmlose Professorenpartei? Da muss sie grinsen. "Professorenpartei?" Die seien von Beginn an gegen den Euro gewesen. Also, wieder keine Manöverkritik.
Merkel drängt zu einem anderen Punkt: Sie mahnt, Politiker dürften "nicht immer wie ein Kaninchen vor der Schlange die AfD im Hinterkopf haben". Stattdessen müsse man Politik für die Mehrheit der Menschen machen, die nicht AfD wähle. Und, nochmal: Mehrheiten mit der AfD? "Davon rate ich ab", sagt Merkel erst und präzisiert dann: "Dagegen bin ich." Es ist eine Mahnung der Alt-Kanzlerin und eine Warnung: Das lasse ich nicht zu.
"ChatGPT ist feige"
War sie nun eine gute Kanzlerin? Oder ist sie hauptverantwortlich für das derzeitige Leid des Landes? Wer ChatGPT fragt, wie Interviewer Schmitz zum Spaß, bekommt eine – das hätte man früher gesagt – sehr merkelige Antwort: So und so. Merkel muss lachen. "ChatGPT ist feige", attestiert sie. Wieder Lachen im Publikum. "Das redet einem nach dem Munde." Sie sei ja neugierig und beschäftige sich deshalb mit Künstlicher Intelligenz. Dann wird sie plötzlich ernst, ganz grundsätzlich: "Es schreit danach, dass wir das regulieren. Das wird die nächste große Schlacht mit den Vereinigten Staaten von Amerika." Von dort käme jetzt ein Riesendruck auf Europa, aber man dürfe dem keinen "freien Lauf lassen".
Es ist ihr vielleicht eindringlichster Appell an diesem Abend: Europa, lässt sich heraushören, muss den USA jetzt die Stirn bieten, wenn man nicht als digitaler Wurmfortsatz enden will, als Spielstätte der Technikkonzerne.
Was war das jetzt für ein Abend auf dem Einmischungsbarometer? Hat sie den Namen Friedrich Merz an diesem Abend in den Mund genommen? Nein. Hat Angela Merkel einen oftmals gänzlich anderen Blick auf die Welt als ihr Nachfolger? Mit Sicherheit.
"Glückliche Kindheit" in der DDR
Neulich hatte der, das zum Schluss, mal wieder für einen Mini-Eklat gesorgt, als er vor seinen Parteifreunden in Sachsen-Anhalt erklärte, was für ein Glück das gewesen sei, dass er selbst im Westen aufgewachsen sei. Fanden manche Ostdeutsche nicht so lustig. Merkel umschifft direkte Kritik an ihm mit einer Anekdote über Helmut Kohl; bei dem habe sie Ähnliches erlebt. Der habe sich immer gefragt, was gewesen wäre, wenn seine Familie in Frankfurt (Oder) statt in Frankfurt am Main sesshaft geworden wäre. "Ich habe immer meinem Sitznachbarn gesagt, ich hoffe, er wäre nicht bei der Stasi gelandet", witzelt Merkel.
Sie habe selbst eine "glückliche Kindheit" in der DDR gehabt, ergänzt Merkel noch. "Leben ist mehr als nur Staat." Wer wüsste das besser als eine Ex-Kanzlerin im Ruhestand?
So viel steht nach diesem Abend fest: Sie wird sich einmischen. Spätestens dann, wenn sie das für staatspolitisch geboten hält.