
Berufssoldaten machen etwa 70 Prozent der russischen Armee aus - dieses Bild wurde von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik veröffentlicht.
(Foto: picture alliance/dpa/Sputnik)
Putin lässt offenbar Truppen aus den tiefsten Ecken Ostrusslands anreisen, um im Ukraine-Krieg für ihn zu kämpfen. Auf den ersten Blick scheinen die 6000 Kilometer nach Kiew eine strategisch schlechte Entscheidung zu sein - aber Putin hat gute Gründe dafür.
Mikhail Garmaev ist nach Angaben der BBC ein russischer Soldat, der im Krieg in der Ukraine getötet wurde. Wie der britische Sender berichtet, stammte er aus Sibirien. Er soll die Schule beendet, ein Studium begonnen und sich dann als Wehrpflichtiger zur Armee gemeldet haben. Danach kehrte Garmaev offenbar in seine Heimat zurück und soll als Installateur von Alarmanlagen gearbeitet haben. In diesem Beruf hielt er es aber wohl nicht lange aus, denn wenig später kehrte er zur Armee zurück - dieses Mal als Berufssoldat. Am 6. März wurde er in der Nähe von Kiew getötet.
Die BBC hat öffentlich zugängliche Informationen über 1083 russische Soldaten ausgewertet, die in dem Krieg gefallen sind. Die etwa 1.000 Namen, die die BBC analysiert hat, sind zwar nur ein Bruchteil der russischen Todesopfer in der Ukraine, aber sie geben einen Einblick in die russische Armee, der sonst nicht möglich ist. Viele sind wie Garmaev: aus armen Verhältnissen und aus dem tiefen Osten Russlands.
Die Armee der Armen
Nach Angaben der BBC kamen 80 Prozent der Männer auf der Liste aus Gebieten, in denen die Menschen unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen leiden. So stammten beispielsweise 93 der auf der Liste aufgeführten Toten aus Dagestan - einer Region, in der die Arbeitslosigkeit derzeit mit 16 Prozent deutlich über dem russischen Durchschnitt von vier Prozent liegt.
Weitere Analysen öffentlich zugänglicher Daten zeigen ein ähnliches Bild der russischen Armee in der Ukraine. So analysierte Kamil Galeev, ein Experte für das russische Militär am Think-Tank Wilson Centre in Washington, eine Liste verletzter russischer Soldaten, die in einem russischen Krankenhaus nahe der ukrainischen Grenze lagen. Laut Galeev stammte mehr als die Hälfte dieser Soldaten aus Dagestan.
Die Tatsache, dass viele der Soldaten in der Ukraine aus ärmeren Verhältnissen kommen, ist zunächst nicht so überraschend. Wie die "Washington Post" berichtet, machen Berufssoldaten etwa 70 Prozent der russischen Armee aus. Viele wählen diesen Weg, weil er finanzielle Sicherheit bietet, die sie sonst nicht hätten. Der Zeitung zufolge verdienen Berufssoldaten in Russland rund 1100 US-Dollar pro Monat. Verglichen mit dem Mindestlohn, der umgerechnet etwa 250 Dollar beträgt, ist das sehr verlockend.
Die restlichen 30 Prozent, die Wehrpflichtige sind, kommen aber auch eher aus wirtschaftlich schwächeren Haushalten. Wie Galeev auf Twitter erklärt, würden nämlich Menschen, die es sich leisten können, Wege finden, das Pflichtjahr zu umgehen. Wie die Washington Post berichtet, haben Menschenrechtsorganisationen und Anwälte seit Beginn des Krieges in der Ukraine "eine Flut von Anrufen" von Männern und ihren Verwandten erhalten, die juristische Hilfe suchten, um der Einberufung zu entgehen.
Gefahr für Putin
Die Tatsache, dass in der Ukraine viele russische Soldaten aus wirtschaftlich schwachen Regionen kämpfen, ist somit schon rein statistisch keine Überraschung. Gleichzeitig könnte genau das für Putins Strategie eine wichtige Rolle spielen. Der russische Präsident wollte diesen Krieg immer von der russischen Bevölkerung fernhalten - Proteste und Demonstrationen, geschweige denn die Erkenntnis der Bevölkerung in Russland, dass es sich um einen Krieg handelt, wurden bisher stark unterdrückt. Moskau hat gelernt, Streitkräfte einzusetzen, die aus Familien stammen, die nicht in der Lage sind, auf Todesfälle hinzuweisen - oder einen großen Aufschrei zu verursachen.
Dies würde sich bei Familien, die gut vernetzt sind und auch Kontakte zu Medien oder Anwälten haben, ändern. "Eine große Gefahr für die Regierung waren in Russland seit jeher die Mütter der Soldaten", erklärt die Historikerin Juliane Fürst Ende März im Interview mit ntv.de. Wenn die Zahl der wohlhabenderen russischen Mütter, die vom Tod ihrer Söhne erfahren, steigt, würde es möglicherweise auch einen öffentlichen Aufschrei über diesen Krieg geben - eine Gefahr für Putins Stabilität in Russland.
Aus dem Osten nach Europa
Zudem fällt auf, dass viele der gefallenen Soldaten aus dem Osten Russlands kommen. Wie die BBC berichtet, kommen viele von der untersuchten Liste aus Burjatien im tiefen Osten Russlands - mehr als 6000 Kilometer von Kiew entfernt.
Sie scheinen auch nicht die einzigen aus dem Osten Russlands zu sein, die für den Krieg eingesetzt wurden. Auch die Truppen in Butscha, dem Vorort von Kiew, in dem mutmaßlich grausame Kriegsverbrechen begangen wurden, sollen aus dem Osten Russlands stammen. Nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes war dort bis zum 31. März hauptsächlich die 64. motorisierte Schützenbrigade aus dem Fernen Osten Russlands im Einsatz.
Besonders interessant sind die Erkenntnisse der BBC, die keinen einzigen getöteten Soldaten aus Moskau gefunden haben. Auch von ukrainischer Seite soll es keine Informationen über tote Streitkräfte aus der Hauptstadt gegeben haben.
Es stellt sich also die Frage: Warum lässt Putin Streitkräfte Tausende von Kilometern reisen, um an einem Krieg teilzunehmen, der seiner Meinung nach nur eine "Spezialoperation" sein sollte? Putin wollte offenbar vermeiden, dass die Soldaten in der Ukraine persönliche Beziehungen in die Ukraine haben. Sein Narrativ über Nazis in der Ukraine würde womöglich schneller auffliegen. Deshalb schickte er lieber Truppen aus mehreren tausend Kilometern Entfernung in den Krieg.
Quelle: ntv.de