Erst Kirchgang, dann Kiew Wie das Weiße Haus Bidens Reise geheim hielt
21.02.2023, 05:14 Uhr
Biden am polnischen Flughafen Rzeszów-Jasionka. Nach Kiew war er mit dem Zug gereist.
(Foto: AP)
Der Besuch des US-Präsidenten in Kiew kommt für die Öffentlichkeit völlig überraschend. Tatsächlich wird er in Washington von langer Hand vorbereitet. Während die Hauptstadtpresse Biden im gemütlichen Wochenende wähnt, sitzt er schon in der Air Force One in Richtung Ramstein.
Für seine geheime Reise nach Kiew mitten im Krieg hat US-Präsident Joe Biden die Medien und die Gerüchteküche im heimatlichen Washington am Wochenende in völlige Ahnungslosigkeit gehüllt. Der womöglich am strengsten überwachte Mensch der Welt wirkte völlig ungezwungen, als er in der ukrainischen Hauptstadt auftauchte, um Präsident Wolodymyr Selenskyj einen Besuch abzustatten. Um Biden nach Kiew zu bekommen, war jedoch eine außergewöhnliche militärische, diplomatische und mediale Choreografie erforderlich. Und im Zentrum der Mission stand die ausgetüftelte Irreführung der Öffentlichkeit.
Bidens Flug nach Polen kurz vor dem Jahrestag der russischen Invasion in der Ukraine war schon lange geplant. Die Boeing 747, die er für Langstreckenflüge als Air Force One benutzt, ein 13-köpfiger Journalistentross sowie die Kohorte von Helfern und Sicherheitskräften standen bereit. Während alles vorbereitet war für eine historische Reise, schien Biden ein erholsames Wochenende zu verbringen. Nachmittagsgottesdienst am Samstag, gefolgt von einem Besuch im National Museum of American History mit First Lady Jill Biden, dann Abendessen in einem gemütlichen Restaurant mit dem Namen "Rote Henne".
Sonntag? Das Weiße Haus sprach von einem Ruhetag mit leerem Terminkalender. Dies sollten zumindest alle glauben - auch die vielen Hundert Journalisten, die für die Berichterstattung über das Weiße Haus zuständig sind. Dabei waren der 80-jährige Biden, eine Handvoll führender Mitarbeiter und nur zwei Journalisten schon per Flugzeug auf ihrem Weg nach Europa. Wie genau sie nach Kiew kamen, wurde erst am Montagabend bekannt, nachdem Biden die Ukraine wieder verlassen hatte.
Von Washington aus flog die Maschine etwa sieben Stunden lang zum US-Luftwaffenstützpunkt in Ramstein, um dort zu tanken. Anschließend ging es weiter nach Polen. Wie zahlreiche europäische Politiker zuvor reiste auch Biden, ein bekennender Bahnfan, von Polen aus mit dem Zug nach Kiew. Nach Angaben der ihn begleitenden Journalisten fand die zehnstündige Zugfahrt unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen statt, ein paar Mal habe der Zug in der Nacht gehalten, bevor er am Morgen die ukrainische Hauptstadt erreichte.
Moskau wurde informiert
Ein Flug kam offenbar angesichts der täglichen Luftangriffe auf die Ukraine nicht infrage. Ob irgendwelche US-Einheiten auf dem Land- oder Luftweg in die Ukraine reisten, um den Präsidenten zu schützen, oder ob die ukrainische Armee, die eng mit den jeweiligen Ansprechpartnern auf US-Seite in Verbindung steht, die Route Bidens sicherte, ist unbekannt.
Das Weiße Haus teilte im Nachgang allerdings mit, dass kurz vor der Reise Kontakt zu Moskau aufgenommen worden sei. Mutmaßlich geschah das in Form einer Warnung. "Wir haben die Russen benachrichtigt, dass Präsident Biden nach Kiew reisen wird", sagte der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan, der den Präsidenten begleitete. Die Benachrichtigung sei "einige Stunden" vor Bidens Abreise erfolgt, um Konflikte zu vermeiden. Aufgrund der "sensiblen Natur des Austauschs" wolle er keine genaueren Angaben zur Art der Benachrichtigung oder zur Antwort Russlands machen, erklärte Sullivan. Das Weiße Haus will zu einem späteren Zeitpunkt Details veröffentlichen.
Dies sei ein "historischer Besuch, einzigartig in der heutigen Zeit", in einem Land im Kriegszustand, ohne US-Truppen am Boden, sagte Sullivan. US-Präsidenten haben schon früher Gefahrenzonen besucht, vor allem während der US-geführten Kriege in Afghanistan und im Irak. In diesen Fällen landeten die Präsidenten jedoch in riesigen, bereits von der US-Armee kontrollierten Militärbasen.
Als die Menschen in den Vereinigten Staaten am Montagmorgen Ortszeit die Nachrichtensendungen einschalteten, zog Biden bereits eine Bilanz seiner Kurzvisite in der Ukraine: "Kiew hat einen Teil meines Herzens erobert", schrieb der US-Präsident bei Twitter.
Quelle: ntv.de, ino/AFP