Rechtsstaat in Gefahr? Wie die AfD an der Justiz sägt - und Schwarz-Rot hilft
Von Sarah Platz
Mit der richtigen Strategie ist es autoritären Populisten auch hierzulande ein Leichtes, die Justiz deutlich zu schwächen. Die Einfallstore der dritten Staatsgewalt seien groß, mahnen Juristen. Das hat die AfD offenbar längst erkannt.
Mal angenommen, es ist Landtagswahl, beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern. Nach dem Auszählen der Stimmen steht fest: Eine Regierungsbildung ohne die autoritär-populistische Partei im Landtag, beispielsweise die AfD, ist rechnerisch nicht mehr möglich. Durchaus skeptisch, aber vom Mangel an echten Alternativen angetrieben, starten die Koalitionsverhandlungen. Und tatsächlich: Schwerin atmet auf - eine Einigung gelingt. Das Regierungschaos scheint abgewiesen. Und angesichts dieses drohenden Übels dürfte das Justizministerium in den Händen der AfD das wohl kleinere Übel sein, oder?
Just im Amt, verkündet der Justizminister, die Justiz im Land mal ordentlich unter die Lupe zu nehmen. Dies geschehe - selbstverständlich - im Sinne des Volkes. Immerhin würden sich die Verfahren von abgehobenen Richtern auffällig in die Länge ziehen, enorm viel Steuergelder kosten und immer öfter mit Entscheidungen gegen den Volkswillen enden. Um dies in Ruhe zu prüfen, wird bis auf weiteres ein Einstellungsstopp für Richter verhängt. Gleichzeitig kommen Gerüchte auf: Der IT-Dienstleister der Justiz sei angewiesen worden, sensible Daten an die Stabsstelle des Ministers zu senden. Das ist zwar verboten, technisch aber möglich - und zwar ohne, dass die Öffentlichkeit davon etwas mitbekommt. Die Sorge vor politischer Vollüberwachung, die Kontrolle der Spruchpraxis einzelner Richter, kommt auf. Doch der Minister beschwichtigt: Man wolle doch nur sichergehen, dass die Richter wirklich Recht im Namen des Volkes sprechen würden.
Nun handelt es sich vorerst um ein Szenario. Aus der Luft gegriffen ist es jedoch keineswegs, wie ein 14-köpfiges Team des rechtswissenschaftlichen Verfassungsblogs herausgefunden hat. Knapp ein Jahr lang untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wie anfällig die deutsche Justiz für Angriffe von autoritären Populisten wie der AfD ist. Ihr alarmierendes Ergebnis: Die Einfallstore der dritten Staatsgewalt sind groß - und die Schwächung der Justiz hat längst begonnen.
Die Delegitimierung
Denn dafür braucht es keine Regierungsverantwortung. Der eingangs beschriebene Minister, der sich die Justiz nach den Vorlieben seiner Partei zurechtstutzt, ist lediglich der letzte Schritt auf dem Weg zum Umbau des Staates, wie aus den Ergebnissen hervorgeht. Das Team arbeitete mit Blick auf Länder wie die USA, Polen, Ungarn und Israel ein System heraus. Eine Art Werkzeugkoffer, in dem sich autoritäre Kräfte weltweit bedienen, um die Justiz mürbe zu machen. Der erste Griff geht dabei stets zur Delegitimierung der Justiz.
Sei es US-Präsident Donald Trump, der Richter "radikale linke Spinner" nennt, oder die israelische Regierung, die vor einer "Herrschaft der Richter" warnt. Mit gezielten Aussagen schwächen autoritäre Populisten das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz. Besonders fatal für eine strukturell schwache Staatsgewalt, die ihre Entscheidungen gerade nicht selbst durchsetzen kann und damit auf Akzeptanz angewiesen ist. Dass auch die AfD längst weiß, wie sie dieses Werkzeug zu bedienen hat, zeigte etwa Parteichefin Alice Weidel, als sie zur Verurteilung von Björn Höcke erklärte: Das, "was Gerichte irgendwie von sich geben", dem könne sie "überhaupt nichts mehr beimessen". Mehrfach griff die Partei Richter in Thüringen öffentlich an. Sie behauptete außerdem, der Verfassungsgerichtshof des Landes sei nach einem "Altparteienproporz" besetzt.
Doch es bleibt nicht bei vergleichsweise kleinem Gerät. Gewinnen die autoritären Populisten an Stärke im Parlament, komme es regelmäßig zu strategischen Blockaden von Richterwahlen, führt das Team das System der autoritären Populisten weiter aus. Wieder geht der Blick nach Thüringen: Seit Monaten blockiert die AfD die Neubesetzung von Richterwahlausschüssen durch ihre Sperrminorität. Personelle Engpässe machen sich bereits bemerkbar - Sand im Getriebe der Justiz.
"Sie wollen einfach blockieren"
Und Wasser auf die Mühlen der AfD, wie Verfassungsblog-Gründer Maximilian Steinbeis bei der Vorstellung des "Justiz-Projektes" deutlich macht. Der Fall Thüringen zeige deutlich, dass es der AfD entgegen ihrer Behauptung gerade nicht darum gehe, einen gerechten "Teil des Kuchens zu erhalten", etwa Teil des Richterwahlausschusses zu sein. So waren die anderen Parteien durchaus zu Zugeständnissen bereit, um die Justiz-Blockade zu lösen. Doch die AfD fordert, so Steinbeis, den Landtagspräsidenten zu stellen. Und zwar mit einem Mann, der verurteilter Holocaust-Leugner ist. "Dass die demokratischen Parteien das nicht machen können, weiß die AfD genau", sagt der Jurist. Vielmehr noch: Genau darum gehe es gerade. "Sie wollen einfach blockieren."
Denn am Ende sei das Ziel, "die unabhängige Justiz zu neutralisieren oder zu einem eigenen Machtmittel umzubauen", heißt es in dem 338-seitigen Ergebnis des "Justiz-Projektes". Ein unstrittiger Angriff auf die Demokratie - dessen Abwehr sich jedoch als enorm herausfordernd gestaltet. So geschieht die Schwächung der Justiz weder mit illegalen Mitteln noch mittels Fackelzug in Karlsruhe. Vielmehr, so macht Steinbeis deutlich, ist die demokratische Verfassung selbst das größte Werkzeug der autoritären Populisten. Keine der eingangs genannten durchaus drastischen Maßnahmen des möglichen Justizministers wäre illegal. Auf dem Weg dorthin nutzen die freie Meinungsäußerung, Sperrminoritäten in Parlamenten und die Möglichkeit zu Haushaltsblockaden den Populisten. Gleichzeitig sind sie essenzielle Pfeiler des Rechtsstaates.
An den Werkzeugen ist damit kaum zu rütteln. Das Team untersuchte also genauer, wo die Strategie der Populisten besonders großen Schaden anrichten kann. Das Ziel: Einfallstore der Justiz ausfindig machen, um sie zu schließen.
Einfallstor: Landesverfassungsgerichte
In den Fokus rückten dabei schnell die Landesverfassungsgerichte - "unterschätzte Institutionen", wie es in der Studie heißt. Zum einen stehen sie im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht nur selten im Rampenlicht. Zum anderen sind sie durchaus mächtig, entscheiden in letzter Instanz über Konflikte zwischen Landesorganen oder bei Wahlprüfungen wie zuletzt in Berlin. Beides macht sie besonders attraktiv für antidemokratische Kräfte.
Trotz ihrer Arbeit am Herzen der Demokratie können die Landesverfassungsgerichte leicht lahmgelegt werden, machen die Wissenschaftler deutlich. In den meisten Bundesländern braucht es eine Zweidrittelmehrheit zur Richterwahl. Mit einer Sperrminorität, wie sie die AfD in Thüringen bereits hat, können die Personalentscheidungen also blockiert und die Verfassungshüter auf Landesebene ins Chaos gestürzt werden.
Die Zweidrittelmehrheit abzuschaffen, würde in diesem Fall zwar helfen. Gleichzeitig könnte es das Einfallstor aber auch vergrößern: Sollte die AfD nach einer Wahl die Regierungsmehrheit erlangen, könnte sie das ganze Landesverfassungsgericht auf einmal - eben mit einfacher Mehrheit - mit loyalem Personal besetzen. Das Szenario zeigt das Ausmaß der Problematik: Eine "Lex AfD" kann es nicht geben. Zum Schutz der Demokratie gedachte Gesetzesänderungen sind oft zweischneidig.
Einfallstor: Justizpersonal
Ein Grund zur Sorge, wenn auch nicht die größte. "Die größte Verwundbarkeit liegt in der Einflussnahme auf das Justizpersonal", betont Anna-Mira Brandau, Co-Leiterin des Projekts, bei der Vorstellung des Projekts. Die Untersuchung zeige, dass es zur Priorität von autoritär-populistischen Parteien gehöre, Schlüsselpositionen mit loyalen Gefolgsleuten zu besetzen. Vor diesem Hintergrund dürfe - neben dem Justizminister - vor allem eine Position unter keinen Umständen an Kräfte wie die AfD fallen: die des Gerichtspräsidenten.
Präsidenten an Landesverfassungsgerichten könnten die Institution bereits durch ihre zentrale organisatorische Rolle manipulieren und lahmlegen. An Instanzgerichten, etwa einem Amtsgericht, haben sie die Personalstruktur maßgeblich in der Hand. Denn: Sie schreiben die Beurteilungen - ohne die Beförderungen nicht möglich sind. Damit könnten sie das Verhalten kritischer Richter bestrafen und loyale Richter belohnen, macht Brandau klar. Einschüchterung aufseiten der Richter und Misstrauen innerhalb des Gerichts wären die Folge.
Mit Unterstützung von Schwarz-Rot
Letztlich, so betont die Juristin weiter, könne eine Übernahme der Justiz allerdings kaum durch zwei Schlüsselpositionen verhindert werden. Die "Kultur der Unabhängigkeit" müsse insgesamt hochgehalten werden. Genau daran scheitere es jedoch zunehmend - vor allem in Politik in Regierung, macht Brandau deutlich. Parteibücher scheinen wichtiger als die Unabhängigkeit der Justiz, richterliche Entscheidungen werden ignoriert, wenn sie nicht in die eigene Politik passen.
Ein laut den Wissenschaftlern besonders alarmierender Fall: Der Umgang mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin zu Zurückweisungen an der deutschen Außengrenze. In einer Eilentscheidung erklärte das Gericht die von der Merz-Regierung etablierte Maßnahme als rechtswidrig. Dass es sich dabei gerade nicht um einen Einzelfall handelt, machte der Richter in den Entscheidungsgründen deutlich. Trotzdem setzte die Bundesregierung ihre Praxis fort.
Im Kontext des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan gehe die Missachtung der Justiz durch die Exekutive sogar noch einen Schritt weiter, fügt Steinbeis hinzu. Etliche schutzsuchende Menschen warten auf ihr Visum. Mittlerweile wiesen zwei Gerichte die Regierung an, diese Visa auszustellen. "Doch es passiert einfach nicht", sagt der Jurist. "Die Gerichte werden einfach ignoriert. Das ist von neuer Qualität." Zumal jene Akteure am Ast der Justiz sägen, die seine Widerstandsfähigkeit eigentlich stärken sollten. Die schwarz-rote Regierung zahlt damit direkt auf das Konto der AfD.
Das Verwaltungsgericht Berlin, Afghanistan, der Fall Brosius-Gersdorf - die schleichende Politisierung der dritten Staatsgewalt lasse sich kaum noch leugnen, erklärt Brandau. Noch können die nun ausfindig gemachten Einfallstore geschlossen und die Unabhängigkeit der Justiz wieder zur Priorität gemacht werden. Deadline könnten die Landtagswahlen im kommenden Jahr sein. Denn momentan steige die Wahrscheinlichkeit, dass autoritär-populistische Parteien Regierungsverantwortung bekommen, mit jeder dieser Wahlen, sagt Brandau im Gespräch mit der "Zeit". Beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern, wo die AfD laut aktuellen Umfragen mit Abstand stärkste Kraft würde.