Ein Monat Waffenruhe Wie ist die Lage in Gaza?
09.11.2025, 13:50 Uhr Artikel anhören
Der Großteil der Bevölkerung muss wegen der schweren Zerstörungen in Zelten leben.
(Foto: picture alliance / Anadolu)
Mit der Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas erklärt US-Präsident Trump den Krieg in Gaza für beendet. Die Realität sieht jedoch anders aus. Israel und die Hamas werfen einander Verstöße gegen die Waffenruhe vor. Hilfsorganisationen berichten von erheblichen Einschränkungen.
Die vor einem Monat in Kraft getretene Waffenruhe zwischen Israel und der islamistischen Hamas haben viele Menschen in der Region mit tiefer Erleichterung aufgenommen. Doch für die rund zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens bleibt die Zukunft weiterhin ungewiss.
Umm Ahmed Afana aus Chan Junis ist bei Verwandten untergekommen, nachdem ihr Haus während des zweijährigen Kriegs beschädigt worden war. "Endlich können wir schlafen, ohne den Klang von Luftangriffen zu hören, aber jedes laute Geräusch erschreckt meine Kinder noch immer", sagt die vierfache Mutter. "Es ist Frieden an der Oberfläche, aber noch nicht in unseren Herzen. Wir beten nur, dass diese Ruhe lange genug anhält, damit wir neu anfangen können."
"Einen Monat nach Beginn der Waffenruhe befinden wir uns in einer sehr fragilen Lage", sagt Michael Milshtein, früherer Leiter der Abteilung für palästinensische Angelegenheiten bei Israels Militärgeheimdienst. Es habe seit dem 10. Oktober schon mehrmals Vorfälle gegeben, die fast zu einem neuen Kriegsausbruch geführt hätten.
Israel greift weiter Ziele in dem Küstenstreifen an: Nach Angaben der palästinensischen Gesundheitsbehörde sind seit Beginn der Waffenruhe mehr als 240 Palästinenser getötet worden. Bei Angriffen auf israelische Truppen, die weiterhin mehr als die Hälfte des Gazastreifens kontrollieren, wurden mehrere israelische Soldaten getötet.
Was wurde bisher umgesetzt?
Die 20 lebenden Geiseln der Hamas wurden wie vereinbart am 13. Oktober freigelassen, darunter auch deutsche Staatsbürger. Im Gegenzug hat Israel fast 2000 palästinensische Gefangene freigelassen. Doch die Übergabe der 28 Leichen, zu der die Hamas sich ebenfalls verpflichtet hatte, verlief entgegen der Vereinbarung nur schleppend.
Im Gazastreifen befinden sich weiterhin die Leichen von fünf Geiseln. In Israel sollen die Proteste weitergehen, bis auch die letzten sterblichen Überreste übermittelt sind. Im Gegenzug für die bisher übergebenen Leichen hat Israel die Leichen von 285 Palästinensern übermittelt.
Israel hat seine Truppen außerdem auf die sogenannte "gelbe Linie" zurückgezogen, die die Rückzugslinie der Armee innerhalb des Gazastreifens markiert. Die Demarkationslinie teilt Gaza laut dem "Guardian" in zwei Teile. Im westlichen Teil versucht die Hamas ihre Kontrolle wiederzuerlangen, indem sie öffentliche Hinrichtungen von rivalisierenden Milizen- oder Bandenmitgliedern durchführt, die ihrer Aussage nach von Israel unterstützt werden.
Im anderen Teil, der sowohl den östlichen Streifen als auch die nördlichen und südlichen Grenzen umfasst, verstärkt die israelische Armee zahlreiche Militärposten und beschießt jeden, der sich der Linie nähert. Damit kontrolliert Israel über 53 Prozent des Gazastreifens. "In unserer Gegend sind die gelben Linien nicht deutlich zu erkennen. Wir wissen nicht, wo sie beginnen und enden. Ich glaube, an anderen Orten sind sie klarer, aber hier ist nichts definiert", sagte Mohammad Khaled Abu al-Hussain, ein 31-jähriger Vater von fünf Kindern, dem "Guardian".
Wird sich die Hamas entwaffnen?
Der Gaza-Friedensplan sieht auch die Entwaffnung der Hamas vor. Die Terrororganisation lehnt das jedoch ab. Im Gegenteil, sie nutzt die Waffenruhe nach Ansicht von Experten, um sich neu zu organisieren. Doch die Trump-Regierung, die den Friedensplan vorgelegt hatte, besteht als Vermittler in dem Konflikt darauf.
Konkret steht im Plan von US-Präsident Donald Trump: Sobald alle Geiseln freigelassen sind, bekommen Hamas-Mitglieder, die sich zu friedlicher Koexistenz und zur Niederlegung ihrer Waffen verpflichten, Amnestie. Die USA stehen auf dem Standpunkt: Wenn die Waffen nicht abgegeben werden, wird sich alles wiederholen.
Nach Einschätzung des Experten Milshtein sind die USA jetzt der Hauptakteur mit Blick auf die Zukunft des Gazastreifens. "Dieser Krieg ist zu Ende gegangen, nicht weil Israel es wollte oder die Hamas eingelenkt hat, sondern weil Trump auf den Tisch gehauen hat", sagt er. Trump sei eindeutig der Entscheider und der US-Präsident werde es nicht erlauben, dass der Krieg von Neuem beginne. "Israels Handlungsspielraum wird immer kleiner."
Die USA haben in Israel ein Koordinationszentrum für alle weiteren Schritte errichtet. Der "New York Times" zufolge sollen die USA darauf drängen, dass ihr Friedensplan durch ein Votum des UN-Sicherheitsrats und damit dann internationales Recht untermauert wird. Dies schließt auch den Einsatz einer internationalen Stabilisierungstruppe (ISF) ein, die im Gazastreifen für Ordnung sorgen soll. Ihre genaue Zusammensetzung ist allerdings noch offen.
USA wollen mehr Diplomatie
Zudem sind die Vereinigten Staaten um Stabilität in der größeren Region bemüht. Dem vor Jahren von den USA initiierten sogenannten Abraham-Abkommen für eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten schließt sich Trump zufolge auch das muslimisch geprägte Kasachstan in Zentralasien an - es unterhält bereits diplomatische Beziehungen mit Israel. Das ist also bloß ein symbolischer Schritt. Mehr Staaten sollen folgen, hieß es von US-Seite, doch noch ist nicht abzusehen, ob zum Beispiel auch Saudi-Arabien beitreten könnte.
Trotz Verletzungen der Waffenruhe hoffen die arabischen Vermittlerstaaten Katar und Ägypten, dass bald die zweite Phase des Friedensplans eingeläutet werden kann. Dazu gehöre ausdrücklich die Entwaffnung der Hamas, betonte der katarische Regierungschef Mohammed bin Abdulrahman Al Thani kürzlich. Die Hamas sei bereit, die Kontrolle über den Gazastreifen abzugeben, solange dies für alle Seiten in dem Konflikt gelte, sagte er.
Experte Milshtein geht allerdings davon aus, dass die Hamas eine internationale Truppe mit robustem Mandat im Gazastreifen nicht akzeptieren würde. Eine alternative zivile Verwaltung, etwa durch die palästinensische Autonomiebehörde, wäre dagegen aus Sicht der Terrororganisation kein Problem, meint Milshtein. "Dies würde die Hamas nicht dabei stören, ihre Stärke zu bewahren." Der Experte geht auch davon aus, dass die Organisation "niemals ihre Waffen niederlegen" würde. Die Waffen gehörten "zur DNA der Organisation". Denkbar sei allerdings ein Kompromiss, der zu einem Verzicht der Hamas nur auf "Angriffswaffen" wie etwa Raketen führen könnte.
Wie geht es den Menschen in Gaza?
Ägyptens Außenminister Badr Abdel-Atti zufolge konzentrieren sich die Bemühungen seines Landes darauf, das Leid der Bevölkerung in Gaza zu lindern. Zudem müssten die Palästinenser eine realistische Aussicht auf ihren unabhängigen Staat erhalten. Dies lehnt die rechts-religiöse Regierung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu jedoch strikt ab.
Nach Inkrafttreten der Waffenruhe waren die Hilfslieferungen als Teil der Vereinbarung ausgeweitet worden, mit einem Ziel von 600 Lkw am Tag. Israel hat nach Angaben des Welternährungsprogramms (WFP) jedoch nur zwei Grenzübergänge geöffnet. Dies schränkt die Hilfslieferungen erheblich ein. Hilfskonvois sind gezwungen, einen langsamen und beschwerlichen Weg aus dem Süden zu nehmen.
Die Menge der eintreffenden Lebensmittel ist weiterhin unzureichend. In den dreieinhalb Wochen seit Beginn der Waffenruhe hat das Welternährungsprogramm (WFP) knapp 20.000 Tonnen Nahrungsmittelhilfe nach Gaza gebracht, etwa die Hälfte des monatlichen Ziels.
Kein Strom, kein Geld
Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Medienbüros sind seit Beginn der Waffenruhe rund 750.000 Binnenflüchtlinge in die Stadt Gaza und den Norden des Gazastreifens zurückgekehrt. Wegen der schweren Zerstörungen lebten aber 80 Prozent von ihnen in provisorischen Unterkünften.
Ahmed Mansour hatte vor dem Krieg einen kleinen Lebensmittelladen im Norden des Gazastreifens. "Die Waffenruhe hat uns etwas Luft zum Atmen gegeben, aber unsere Realität hat sich nicht geändert", sagt er. "Ich kann den Laden immer noch nicht wieder eröffnen - es gibt die meiste Zeit keinen Strom, und die Menschen haben kaum Geld, um etwas zu kaufen."
Huda Salman, eine Lehrerin aus der Stadt Gaza, erzählt: "Zum ersten Mal seit Monaten sind meine Schüler wieder im Unterricht. Einige Kinder zeichnen immer noch Raketen und Soldaten - so erinnern sie sich an den Krieg. Aber wenn ich sie während des Unterrichts lachen sehe, spüre ich ein wenig Hoffnung."
Quelle: ntv.de, Sara Lemel, Anna Ringle und Christoph Meyer, dpa